Scottland Yard ermittelt bei Grenfell-Feuer

Lokalbehörde muss wegen Hochhausbrand vor Gericht

  • Peter Stäuber, London
  • Lesedauer: 3 Min.

Der Bezirksrat, der für die Verwaltung von Grenfell Tower verantwortlich ist, wird möglicherweise der fahrlässigen Tötung angeklagt. Laut einem Schreiben der Londoner Polizei an ehemalige Bewohner des Wohnblocks gibt es »hinreichende Gründe«, vom Tatbestand des »corporate manslaughter« auszugehen - also Totschlag durch Unternehmen. Damit werden der Kensington and Chelsea Council sowie die Kensington and Chelsea Tenant Management Organisation, die im Auftrag des Bezirksrats die Gemeindebauten verwaltet, von nun an von Scotland Yard als Verdächtige bei den Ermittlungen um den Hochhausbrand vom vergangenen Monat behandelt.

Der Tatbestand des Totschlags durch Unternehmen wurde 2007 eingeführt und bezieht sich auf Fälle, bei denen eine Organisation die Sorgfaltspflicht verletzt und so den Tod einer Person verursacht. Im Fall Grenfell scheint vieles auf eine solche Fahrlässigkeit hinzudeuten: Ehemalige Bewohner hatten die Verantwortlichen wiederholt auf schwere Mängel bei der Feuersicherheit im Wohnblock aufmerksam gemacht, ohne dass diese darauf reagierten.

Yvette Williams, ein Mitglied der Kampagne Justice 4 Grenfell, begrüßte das Schreiben der Metropolitan Police. Sie sagte aber auch, dass nicht nur Organisationen bestraft werden sollen, sondern auch Individuen. »Politische Entscheidungen werden von Personen getroffen, und wir wollen, dass diese Personen zur Verantwortung gezogen werden«, erklärte die Aktivistin. Auch der Labour-Abgeordnete David Lammy meinte, dass eine Geldstrafe nicht ausreiche.

In den sechs vergangenen Wochen nach der Brandkatastrophe vom 14. Juni, die laut bisherigen Angaben 80 Menschenleben kostete, ist die Wut der Anwohner und Angehörigen der Opfer immer weiter gestiegen. Dabei richtete sich der Protest auch gegen die britische Premierministerin Theresa May und ihre Regierungspartei, die Torries. Der Vorsitzende des Bezirksrats und sein Stellvertreter traten im Gefolge des Großbrands zurück, aber vielen Anwohnern reicht das nicht: Sie fordern, dass der gesamte Bezirksrat sein Amt niederlegt und ersetzt wird.

Sie werfen den Verantwortlichen vor, dass sie nach dem Feuer zu langsam reagiert und Notunterkünfte nur zögerlich bereitgestellt haben sowie Überlebende zu langsam in neuen Wohnungen untergebracht werden. Die erste Ratssitzung nach dem Feuer, die vergangene Woche stattfand, wurde von lautstarken Protesten begleitet. Wenige Tage später kündigte der Bezirksrat an, innerhalb von einem Jahr allen überlebenden Anwohnern neue Unterkünfte zur Verfügung zu stellen. Zudem sollen sie während der ersten zwölf Monate von der Miete befreit werden.

Wie tief die psychologischen Wunden sind, die der Großbrand hinterlassen hat, wurde bei einer öffentlichen Anhörung vergangenen Mittwoch offensichtlich, bei der Anwohner, Feuerwehrleute, Polizei und Lokalpolitiker teilnahmen: Freiwillige Helfer verwiesen auf einen starken Anstieg der Selbstmordversuche in North Kensington, wo Grenfell Tower steht. Seit dem Feuer am 14. Juni habe es in diesem Quartier 20 Suizidversuche gegeben, sagte Bhupinder Singh, der den Überlebenden jeden Abend warmes Essen bereitstellt. Sie seien die »stillen Opfer dieser Tragödie«, sagte ein anderer Anwohner: Im Schatten des Wohnblocks zu leben, ohne Unterstützung und Information, habe ihn an die Grenze seiner Belastbarkeit gebracht.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal