Eine asoziale Begabung

Revolution und Bürgerlichkeit: Karl Heinz Bohrers Autobiographie »Jetzt«

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Wahrer Abschied ist, was sich einbrennt. Die junge Frau zum Beispiel. Sie geht, aber nicht, ohne vorher mehrere Zigaretten zu rauchen und sie dann auszutreten - auf dem Dielenfußboden des Hausherrn. Karl Heinz Bohrer schweigt. Ihn verbindet eine »distanzierte Freundschaft« mit dieser Besucherin. Er beschreibt sie als »ernst, weiblich anziehend«. Woher die Nähe? Wahrscheinlich habe sie in den oftmaligen Begegnungen gespürt, »dass ich gewissermaßen asozial begabt bin«. Es machte Spaß, gemeinsam Fragen zu stellen, »ohne dass die Antwort bereits unterwegs war«. Jetzt aber wirkt die junge Frau erschöpft, ist ermüdet am System. Wenige Tage später geht Ulrike Meinhof in den Untergrund.

Die Meinhof ist eine der zahlreichen Personen, die Karl Heinz Bohrers Erinnerungen »Jetzt. Geschichte meines Abenteuers mit der Phantasie« zu einem erregenden Panorama westdeutscher Geistesgeschichte erheben. Der einstige Literaturchef der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«, Herausgeber der Zeitschrift »Merkur« und Professor in Bielefeld und Paris schrieb eine herausfordernde Biographie seines Denkens. Alles beginnt mit Jürgen Habermas, den der junge FAZ-Redakteur aufsucht, als er 1967 über die in Westberlin protestierenden Studenten berichten soll. Habermas wird von ihm im Buch nur »Philosoph« genannt. Eine Hommage, aber um den Sockel weht auch ein leichter Wind des Zwinkerns - gegen Habermas’ Kritik des Subjektivismus entzündet sich nämlich Bohrers so ganz andere Art, mit Welt umzugehen.

Als er aus Westberlin in die Frankfurter Redaktion zurückkehrt, sagt er dort den Satz: »Dieses Feuer ist aus Feuer und nicht aus Stroh«. Signal gegen ein FAZ-arrogantes Herablassungsklima. »Die reaktionäre Atmosphäre war manchmal nicht mehr auszuhalten.« Überhaupt: Deutschland! Etwa dieser Franz Joseph Strauß! »Wie der aussah! Dagegen half tatsächlich die Idee einer anderen Gesellschaft, meinetwegen auch einer revolutionären.« Was dann folgt, sind über 500 Seiten Erfahrung, die sich so links wie konservativ ausformt - nur das Gegensätzliche, ineinander verzurrt, ist das Lebendige.

Dieser autonome Intellektuelle, auf Fotos finster und faltenbewusst blickend, mit einem Hut, der Eleganz und Anherrschung verbindet - er hat ein grandioses Buch über eine elitäre Existenz geschrieben. Elitär ist, wer mit seiner Intelligenz eher in die stolze Vereinzelung abirrt, als in irgend einer grobhirnigen Gemeinschaftswärme aufzugehen. Bohrer litt an allem, was Alltag war. Er hasste es, die freien Wochenenden »mit fröhlichen, nichtarbeitenden Menschen« zu verbringen. Ihm war sie zuwider, die Tristesse des ständig Absehbaren.

Bohrer kann auf die Realität nur immer blicken, als sei sie ein Theaterstück: alles Bühne, alles Schauspiel, alles Kulisse und Kostüm; alles zwar wirklich, aber nicht Wahrheit - die, ohnehin nur ein Schatten, findet sich wahrlich woanders. Und Politik zu verstehen, das geht für Bohrer nicht »ohne Instinkt für das Melodramatische«. Da ist sie, die Abgrenzung vom nüchternen Habermas. Für den Journalisten Bohrer kam zuerst der Stoff, ja, aber »dann der Einfall, dann die Erfindung.« Berichten? Zudem noch »objektiv«? Armselig. So ist er ein Wollüstling des Begriffs geworden, ein Abenteurer der Theoreme. So ging er schreibend seinen Weg, durch den Journalismus hindurch und hinaus. Berichtete als Korrespondent aus England, lehrte aber ab 1982 Literatur in Bielefeld und Paris (»dieses Pariser Grau hatte etwas von der Würde des schon lange Dagewesenen«).

Der Autor entwickelt mehr und mehr sein Denken der »Plötzlichkeit«. Findet Motive bei Kleist. Dessen Kohlhaas sei »nicht wirklich an der Herstellung des Rechts interessiert, sondern an einem ihn überwältigenden Gefühl«. Don Quichotes Kampf gegen die Windmühlenflügel? Sinn, Wahnsinn? Ach, einfach eine großartige Idee gegen die Realität. Es geht Bohrer stets um den extrem »intensiven Augenblick der Existenz«, der sich entschieden von dieser verflucht modernen Ich-Identität abhebt. Gewährsmann Kafka: »Sich ruhig ertragen, ohne voreilig zu sein, so leben, wie man muss, nicht sich hündisch umlaufen.« Er will Dinge nicht erfassen, sondern von ihnen erfasst werden. So, wie Botho Strauß das Gewöhnliche emporschrieb: »Man bedenke, was uns eine Tür ist: der plötzliche Besuch, der auffliegende Verschluss, Eindringen, gestürmte Klause, der Bruch der Zelle, der Schrecken, das Jähe selbst.« Alles, was gilt ist: Jetzt.

Bohrer öffnete sich für linkes Denken, ohne sich ins Rotbanner wickeln zu lassen. Er wurde kritisch, ohne in irgend einer Parteilichkeit auszudünnen. Er beklagt sein fehlendes soziales Gewissen, aber er hat nun mal keine Sympathie für die »Menschen en masse, sei es als Volk, sei es als Nation«, sei es in ihrer »klassenmäßigen Ausprägung«. Doch teilt sich in seinen Erinnerungen sehr wohl mit: Da in jeder revolutionären Erhebung auch ein konservatives Grundelement wurzelt, nämlich der Trieb nach Wiederherstellung der gerechten Ordnung, ist es so schwer, sich revolutionärem Gedankengut zu entziehen. Der anarchische Schauder gehört zu unserer emotionalen Grundausstattung. »Die Revolution war das Ereignis der Moderne schlechthin. Sie war die plötzliche Unterbrechung des Absehbaren, sie müsste ein Potenzial innerhalb der Gegenwart bleiben.«

Dennoch lebt er den konsequenten Abstand. Sein Daseinsmotto stammt von Albert Camus: »Kein Volk kann außerhalb der Schönheit leben.« In Deutschland freilich gebe es eine Misere, »die kann man nicht abwählen. Dieses Unvermögen ist die Unfähigkeit zu Stilbewusstsein.« Er nennt die »Verhässlichung und Vulgarisierung« einen »Sachverhalt jeder modernen Massendemokratie.« Frankreich beschreibt er wie einer, der im Champagnerperlen endlich das deutsche Leitungswasser vergisst. Er feiert sich in die französischen Surrealisten hinein. Taucht immer wieder ab und auf zu Breton, zu Benjamin. Und zu Hölderlin. Nennt die Entwicklung der Bundesrepublik eine »Flucht in den Superstaat, der von der Holocaust-Schuld des früheren deutschen Nationalstaats wenigstens etwas entlasten sollte.« Schüttet seine Verachtung über jene Kleingeister aus, die den Wert von Literatur am moralisch-politischen Korsett festmachen, in das Autoren gezwängt werden. »Baudelaire hatte den Erfinder der konterrevolutionären Reaktion, Joseph des Maistre, als seinen Erzieher zum Denken erklärt.« Und Céline bleibt ein Großer, obwohl »derselbe Geist die übelste antisemitische Hetze betrieb«.

Der Eigensinn des Autors hat natürlich etwas Brötlerisches und ist bisweilen ein knorrig verteidigtes Dandytum. Aber er braucht diese Kraft - zur Verteidigung einer Ästhetik, deren Wert sich im gesellschaftskritischen Auftrag weder findet noch erschöpft. Er schreibt über den »blutigen Lenin«, ist schon als Abiturient gefangen von »Sonnenfinsternis«, Arthur Koestlers großem schrecklichem Roman über die rote Barbarei. »Diese Grausamkeit des sowjetischen Geheimdienstes, die Unmenschlichkeit der politischen Elite und vor allem die Unterwürfigkeit der zum Tode Verurteilten unter ihr Schicksal«. Weit also der Bogen des gesellschaftlichen Horizonts. Und des privaten: berührend die Schilderung seiner ersten Ehe mit der Schriftstellerin Undine; ihr quälend sich schleppendes Sterben.

Bohrer begrüßt die deutsche Einheit, Habermas schreibt ihm prompt einen erregten Widerbrief. Merkwürdig, wenn Philosophen der Sonnenseite eine Bevölkerung zurechtweisen, die dort ebenfalls hin will. Gegenwärtig beunruhigt Bohrer die Art, wie alle abgebürstet werden, die aufmerksam machen auf den »zivilisatorischen und psychologischen Sprengstoff, den die Flüchtlinge im Gepäck« haben. Natürlich: unbedingte solidarische Hilfe. Aber doch bitte ohne »Gesinnungsdiktat«. Er sieht »Feuerwehrleute im Einsatz für das angemessene Denken«, sieht, »wie sie ihrer Schläuche ausrollen« und die Unkorrekten »ablöschen«.

Dieses Buch lässt an den leidigen linken Reflex denken, sich forsch, aber nebulös vom »Bürgerlichen« abzugrenzen. Bürgerlich ist die Idee der Konkurrenz, des Exzellierens, bürgerlich ist der Wille zum Herausragenden und, daraus hervorspringend, der Sinn für individuellen Rang. Bohrer plädiert für das Einzigartige, dessen sich der Einzelne bewusst werden möge. Mag sein, dass die bürgerliche Welt in allem stirbt - doch lebt sie in vielem. Es ist ihre wundersame Form der Selbstbehauptung: aus Untergängen Überlebenskräfte zu gewinnen und sich am eigenen Grabe Gesundheit zu besorgen.

Karl Heinz Bohrer: Jetzt. Geschichte meines Abenteuers mit der Phantasie. Suhrkamp Verlag Berlin, 542 S., geb., 26 €.

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