Fairer Prozess für Mesale Tolu? Nicht denkbar!

Deutscher Richterbund zweifelt an einer unabhängigen Justiz in der Türkei

  • Lesedauer: 4 Min.

Ulm. Wenn sich Freunde und Sympathisanten von Mesale Tolu Corlu auf dem Münsterplatz ihrer Heimatstadt Ulm treffen, pendelt die Stimmung zwischen Wut und Hoffnung. Wut auf die türkische Regierung, die aus Sicht der Unterstützer verantwortlich für die Verhaftung Tolus wegen «Terrorpropaganda» ist. Aber auch Hoffnung ist auf den Freitagsdemonstrationen in Ulm, die nach einer Pause am 25. August fortgesetzt werden sollen, immer wieder zu vernehmen.

«Wir können doch die Hoffnung, dass Mesale freikommt, nicht einfach aufgeben», sagte ihr Bruder Hüseyin Tolu in Ulm der Deutschen Presse-Agentur. Ihr Vater Ali Riza Tolu sagte der dpa: «Ohne Hoffnung geht es nicht». Die Familie ist überzeugt, dass Mesale Tolu bei ihrer Arbeit für die linksgerichtete Nachrichtenagentur Etha in Istanbul nichts getan hat, was nach rechtsstaatlichen Maßstäben strafbar wäre. «Meine Tochter hat sich nichts zuschulden kommen lassen», sagte ihr Vater.

Tolu war am 30. April vor den Augen ihres nun zweieinhalbjährigen Sohnes festgenommen worden, als Polizisten einer Anti-Terror-Einheit ihre Wohnung stürmten. Kurz darauf wurde Haftbefehl erlassen. Unter anderem wegen Terrorpropaganda drohen ihr bis zu 15 Jahre Gefängnis. Für Dienstag ist der erste Haftprüfungstermin seit der Anklageerhebung vorgesehen. Rein theoretisch könnte ein Richter befinden, dass die 33-jährige Tolu bis zum Prozessauftakt am 11. Oktober auf freien Fuß zu setzen ist. «Das wäre allein schon aus humanitären Gründen angebracht», sagt Baki Selcuk, der Sprecher Solidaritätskreises «Freiheit für Mesale Tolu!» in Berlin. Auch Tolus Ehemann ist in der Türkei inhaftiert. Der Sohn sitzt mit der Mutter im Frauengefängnis im Istanbuler Stadtteil Bakirköy.

Nach dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016 wurden nach Angaben des Auswärtigen Amtes bereits neun Deutsche in der Türkei inhaftiert. Darunter sind der deusch-türkische «Welt»-Korrespondent Deniz Yücel und der deutsche Menschenrechtler Peter Steudtner. Die Verhaftungen belasten die deutsch-türkischen Beziehungen massiv. Angeheizt wurde der diplomatische Konflikt erneut, als am Wochenende der türkischstämmige Kölner Autor Dogan Akhanli vorübergehend in Spanien festgenommen wurde. Ihm droht nun die Auslieferung in die Türkei. «Durch so etwas steigen die Hoffnungen auf ein rechtsstaatliches Verfahren nicht. Sie gehen eher zurück», sagte Selcuk mit Blick auf die Verhaftung Akhanlis.

Die Bundesregierung hatte den Druck auf Ankara nach der Verhaftung Steudtners Mitte Juli erhöht. Die Lage der Häftlinge hat sich jedoch noch nicht verbessert, wie auch Bundesaußenminister Sigmar Gabriel (SPD) in einem Interview mit der Deutschen Presse-Agentur einräumte. Bitten um die Freilassung der Deutschen ließ Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan bisher mit Verweis auf die unabhängige Justiz an sich abprallen.

Der Deutsche Richterbund dagegen zweifelt daran, dass es noch eine unabhängige Justiz in der Türkei gibt. Nach dessen Einschätzung können die inhaftierten Deutschen nicht mit einem rechtsstaatlichen Verfahren rechnen. «Das Erdogan-Regime ist in seiner Willkür inzwischen unberechenbar, zumal eine effektive rechtsstaatliche Kontrolle weitgehend ausfällt», sagte Verbandsgeschäftsführer Sven Rebehn der «Neuen Osnabrücker Zeitung»«. »In der türkischen Justiz herrscht ein Klima der Angst.« Richter und Staatsanwälte seien zu tausenden wegen vermeintlicher Nähe zur Gülen-Bewegung entlassen, inhaftiert und in ihrer wirtschaftlichen Existenz vernichtet worden. Rechtsanwälte, die Inhaftierten verteidigten, müssten selbst mit dem Vorwurf der Terrorhilfe rechnen und stünden mit einem Bein im Gefängnis.

Da hilft bislang auch nicht, dass Tolu keine türkische, sondern allein deutsche Staatsbürgerin ist - anders als Deniz Yücel, der sowohl die deutsche als auch die türkischer Staatsbürgerschaft hat. Tolu wurde 1984 im baden-württembergischen Ulm geboren, ihren Hauptwohnsitz hat sie in auf der bayerischen Seite der Donau in Neu-Ulm.

Viele Menschen in der Donau-Doppelstadt kennen und schätzen sie seit Jahren. »Wir haben Mesale als eine nachdenkliche und engagierte Schülerin gekannt«, heißt es in einer Erklärung ihrer früheren Lehrer am Ulmer Anna-Essinger-Gymnasium. »Ihre Zivilcourage und ihr jetziges Eintreten für Freiheit und Demokratie entspricht auch unserem Wertekanon und unseren schulischen Bildungszielen.« Tolu antwortete in einer Botschaft aus dem Gefängnis: »Euer Wille und eure Kraft geben mir Kraft und Hoffnung. (...) Ich glaube daran, dass es bald sonnige Tage für uns geben wird.« dpa/nd

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