Ein langer Weg liegt vor dem Irak

Bis zur Bildung einer Regierung und einem funktionierenden Staat dürfte es nach den Wahlen noch dauern

  • Oliver Eberhardt, Bagdad
  • Lesedauer: 4 Min.
Anhänger des amtierenden irakischen Premierministers Schia Al-Sudani schwenken Nationalflaggen und feiern den Sieg seines Wahlbündnisses.
Anhänger des amtierenden irakischen Premierministers Schia Al-Sudani schwenken Nationalflaggen und feiern den Sieg seines Wahlbündnisses.

In Bagdad und drumherum herrscht Stromausfall, wieder mal. »Es ist kaum zu fassen«, beschwert sich Amal Al-Sajegh: »Wir haben Öl, wir haben Sonne und in den vergangenen Jahrzehnten haben die USA Milliarden in den Irak gesteckt. Warum haben wir keinen Strom?« Die 22-Jährige studiert Betriebswirtschaft und wie viele ihrer Kommilitonen zieht es sie immer wieder raus aus dem Hörsaal, auf die Straße, um dem Frust Gehör zu verschaffen: Denn zwar ist die Zeit der Massenproteste erst einmal vorbei: Zwischen 2019 und 2021 demonstrierten in Bagdad Hunderttausende gegen Korruption, gegen die Perspektivlosigkeit, die das Land fast 23 Jahre nach dem Sturz von Diktator Saddam Hussein beherrscht. Heute sind die Demonstrationen kleiner geworden: »Viele haben resigniert«, sagt Al-Sajegh.

Am Dienstag vergangener Woche wurde ein neues Parlament gewählt; nur 56,11 Prozent der Wahlberechtigten nahmen teil. Und selbst das wird bereits als Denkzettel gewertet, denn beim vorangegangenen Mal, 2021, hatte die Wahlbeteiligung bei nur 43,31 Prozent gelegen.

Frustration, Protest und trotzdem nur niedrige Wahlbeteiligungen: Wie passt das zusammen? Im Gespräch mit den Menschen wird schnell deutlich, dass man das politische System nicht als Lösung, sondern als Teil des Problems auffasst – aus gutem Grund: In den vergangenen zehn Jahren ist die Arbeitslosigkeit stark gestiegen, die Lebenshaltungskosten gehören im Vergleich zu den Durchschnittsgehältern zu den höchsten in der arabischen Welt. Die Infrastruktur ist marode. Wer sich in Bagdad und anderswo umschaut, ist erst einmal erstaunt: Dies ist das Land mit den weltweit fünftgrößten Ölreserven; wo ist das Geld?

Am Dienstag wurden nun sage und schreibe 41 Wahllisten ins 329 Sitze umfassende Parlament gewählt. Jene Listen, die 2023 den heute 55-jährigen Ingenieur Schia Al-Sudani zum Regierungschef gewählt hatten, dürften, so die vorläufigen Ergebnisse, zusammen den größten Block im Parlament stellen. Doch für eine Mehrheit hat es nicht gereicht. Und der Widerstand gegen eine erneute Wahl Al-Sudanis ist groß. Denn wo das Geld hinfließt, lässt sich rund um die Sehenswürdigkeiten in Bagdad beobachten: In der Altstadt wird renoviert, es wird eine Straßenbahn gebaut. Museen und Sehenswürdigkeiten sind wegen Bauarbeiten geschlossen.

In Basra im Südirak, in unmittelbarer Nähe zu einem der größten Erdölfelder des Landes, tröpfelt derweil oft nur eine braune Plörre aus den Wasserhähnen. Die Regierung Al-Sudanis hofft indes, zahlungskräftige Touristen ins Land zu locken, und das, während die Kriminalität enorm verbreitet ist, im Norden immer noch kleine Gruppen, die sich der Terrormiliz »Islamischer Staat« verschworen haben, Ortschaften angreifen und Menschen ermorden. Grund für die hohe Kriminalität: eine große Zahl an bewaffneten Gruppen, die einst unter dem Sammelbegriff Al-Haschd Al-Schaabi (Volksmobilisierung) gegen den »Islamischen Staat« kämpften, aber sonst vor allem entweder für Entführungen, Drogenhandel und Erpressung verantwortlich sind oder die Forderungen von politischen Gruppierungen im Parlament mit Gewalt unterstützen.

Sobald die offiziellen Wahlergebnisse bekannt gegeben worden sind, wird ein komplexes Hin und Her beginnen, das viele Monate dauern kann. Denn zunächst einmal muss sich das Parlament auf einen Parlamentssprecher einigen. In der Regel wird dieses Amt von einem Sunniten bekleidet. Erst wenn dieser Posten besetzt ist, kann das Parlament den Präsidenten wählen, der Kurde sein soll. Erst dann kann ein schiitischer Abgeordneter mit der Regierungsbildung beauftragt werden. Beim letzten Mal dauerte das zwei Jahre.

Die Gebiete mit kurdischer Bevölkerungsmehrheit genießen als Autonome Region Kurdistan einen Sonderstatus. Dies hat zu einer vergleichsweise hohen Stabilität dort und sehr viel besseren Lebensumständen geführt. Gleichzeitig rivalisieren aber auch die Kurdische Demokratische Partei (KDP) und die Patriotische Union Kurdistans miteinander, während sich die Parameter verschieben: Normalerweise wählen überwiegend schiitische, sunnitische und kurdische Provinzen ausschließlich Kandidaten, die dieser Bevölkerungsgruppe zuzuordnen sind. Dieses Mal jedoch gewann die KDP in der sunnitischen Provinz Niniveh die meisten Sitze, während in der kurdischen Region Dijala kein einziger kurdischer Kandidat durchkam – die strikte Trennung zwischen den Bevölkerungsgruppen scheint sich langsam aufzulösen. Doch Stromausfälle, Kriminalität und Arbeitslosigkeit zeigen: Das Land hat noch einen langen Weg vor sich.

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