«Willkommen im Paradies»

Fajã dos Padres versteckt sich am Ende der Welt und doch mitten auf Madeira.

  • Heidi Diehl
  • Lesedauer: 6 Min.

Mein Kreislauf schlägt Purzelbäume beim Blick hinunter in die Tiefe und signalisiert höchste Alarmstufe: «Achtung, in wenigen Sekunden werde ich zusammenbrechen! Bitte unternimm sofort etwas dagegen!» Da gibt es nur zwei Möglichkeiten: entweder ein paar Schritte rückwärts gehen und kneifen. Oder Augen zu und durch! Was bedeutet, in eine winzige gläserne Gondel zu steigen, um mit ihr rund 350 Meter in den Abgrund und gefühlt ins Meer zu «stürzen». Da unten nämlich soll sich der Garten Eden befinden.

Am Ende siegt die Neugier. Ich versuche, meine Höhenangst zu ignorieren, steige mit weichen Knien ein und weiß schlagartig, wie sich die Goldmarie aus dem Märchen Frau Holle gefühlt haben muss, als sie, aus Angst vor der Strafe der Stiefmutter, in den Brunnen sprang, um die verlorene Spule wiederzufinden. Nur lande ich nicht auf einer heimischen Sommerwiese, sondern inmitten einer Plantage voller tropischer Früchte und Blumen: Mangos, Avocados, Bananen, Papayas, Surinamkirschen, Feigen, Maracujas, Guaven, Litchis, Cashewnüsse, Tomaten, Süßkartoffeln, Strelitzen, Engelstrompeten, Fuchsien, Begonien, ...

«Willkommen im Paradies», begrüßt mich Mario Jardim Fernandes, der Besitzer von Fajã dos Padres, einer 13 Hektar großen fruchtbaren Plantage, die auf der einen Seite vom Meer und auf der anderen von einer gewaltigen senkrechten Felswand begrenzt wird. Bis 1996 gab es nur einen Weg hierher - mit dem Boot von Funchal aus. Dann nahm Fernandes richtig Geld in die Hand und ließ einen gläsernen Aufzug an die Felswand bauen. Gegen diesen wirkt die neue Luftgondel, die den abenteuerlichen Lift 2016 ersetzte, regelrecht harmlos. Seitdem wagen sich auch immer öfter Besucher in das abgelegene Paradies. Inzwischen kann man hier sogar Urlaub machen, denn neun alte Hütten, in denen früher die Plantagenarbeiter lebten, haben Mario und seine Frau Isabel zu gemütlichen Ferienwohnungen umgebaut.

Fajã dos Padres liegt an der Südküste Madeiras am Fuß der berühmten Steilklippe Cabo Girão, die mit knapp 590 Metern die zweithöchste der Welt sein soll. «Fajã» nennt man auf Madeira jene schmalen Landstreifen am Meer, die sich unter den spektakulären Felsklippen über Jahrhunderte hinweg durch herabfallendes Stein- und Erdmaterial gebildet haben. Und «Padres» ist das portugiesische Wort für Priester.

Tatsächlich waren es Mönche eines Jesuitenordens aus dem nur 15 Kilometer entfernten Funchal, die den knapp 100 Meter breiten, von einem besonderen Mikroklima begünstigten Küstenstreifen im 15. Jahrhundert besiedelten und landwirtschaftlich nutzten. Sie waren die Ersten auf der Insel, die in der geschützten Lage die empfindlichen Malvasia-Reben anbauten, weshalb die Fajã dos Padres auch als Wiege der Weinkultur Madeiras gilt. Die Trauben verarbeiteten sie zu einem extrem aromareichen Süßwein, der bis heute bei Weinkennern Begehrlichkeiten weckt. Dieser erste Weingarten Madeiras verschwand mit den Mönchen, die 1766 von ihrem Land vertrieben wurden. Die neuen wechselnden Besitzer setzten auf Zuckerrohr und Bananen. Auch Isabels Großvater, der die Fajã 1921 einer verarmten Adelsfamilie abkaufte, änderte nichts daran. Erst als die Enkelin vor fast 40 Jahren Mario Jardim Fernandes heiratete, verschwand die Monokultur. Der Elektroingenieur und Nebenerwerbsbauer pflanzte alle möglichen Obstbäumen und Gemüsesorten. Seine Leidenschaft aber galt der Wiederbelebung des Weinbaus. Die dafür nötigen Kenntnisse hatte der Sohn eines Winzers gewissermaßen mit der Muttermilch aufgesogen. Er konnte sein Glück kaum fassen, als er auf dem Gelände verstreut noch einige uralte Rebstöcke fand, die die Zeit und die Reblaus unbeschadet überdauert hatten. Was er zunächst nur vermutete, bestätigten später DNA-Untersuchungen der Methusalems: Bei den verwilderten Reben handelt es sich um den Original-Malvasia aus dem 16. Jahrhundert, der nirgendwo anders auf Madeira überlebt hat. Mario machte sich daran, diese Urreben wieder zu vermehren. Heute wächst der Wein überall versteckt zwischen Obst, Gemüse und Blumen auf insgesamt einem Hektar.

«Komm», sagt Mario, «ich zeig dir meine Schatzkammer.» Wir laufen an einem Beet mit buntem Gemüsepaprika vorbei, queren einen kleinen Bananenhain, lassen eine Pergola voller Trauben links liegen und erreichen nach ein paar Metern einen versteckt liegenden Keller, in dem ein paar betagte Fässer stehen, die den Eindruck machen, als wären sie von den Mönchen zurückgelassen worden. So alt sind sie zwar nicht, erzählt der Winzer, aber ein paar Jährchen haben sie auch schon auf dem Buckel. Wie auch der «Madeira», der in ihnen reift. Er lässt aus dem Fass, auf dem mit Kreide die Jahreszahl 2001 steht, einen dickflüssigen bernsteinfarbenen Strahl in ein Glas laufen und reicht es mir. «100 Prozent Ur-Malvasia», sagt er stolz.« Der Wein duftet intensiv nach kandierten Früchten, und auf der Zunge macht sich dickflüssig eine süße Armomamischung aus Kräutern, Rosinen, Nüssen und dunkler bitterer Schokolade breit. Köstlich!

»Der kann noch«, sagt Mario, und meint damit, dass der 16-Jährige ruhig noch vier, fünf Jahre im Fass reifen kann, ehe er ihn in Flaschen füllt. Ob ich mal einen wirklich guten Schluck probieren möchte, fragt er, wohl wissend, wie überflüssig diese Frage eigentlich ist. Ohne meine Antwort abzuwarten, geht er in die hinterste Ecke des Kellers, wo eine Kiste mit ein paar dick eingestaubten Flaschen steht und zieht eine davon heraus - einen Malvasia aus dem Jahr 1986, dem letzten Jahrgang, den er in Flaschen abgefüllt hat. Nur 654 gab es davon insgesamt, jede einzelne ein kleines Vermögen wert und unter Sammlern hoch gehandelt. Als er mir ein Glas davon reicht, fühle ich mich erneut wie die Goldmarie, als sie reich beschenkt das Paradies von Frau Holle verlässt. Nur, dass ich nicht mit Gold überschüttet, sondern mit einer absoluten Rarität verwöhnt werde. Noch öliger im Glas, noch intensiver in Geruch und Geschmack als der 2001er Wein, versuche ich sein Ende hinauszuzögern, indem ich ihn nur in winzigen Schlückchen genieße.

Als wir den Keller wieder verlassen, fühle ich mich für einen Moment wie aus dem Paradies vertrieben. Doch nur wenige Minuten später verfliegt dieses Gefühl so schnell, wie es kam. Wir sitzen in dem gemütlichen Strandrestaurant, das Mario und Isabel vor einiger Zeit eröffnet haben, und genießen, was der Küchenchef serviert. Der kann jeden Tag aus dem Vollen schöpfen und sich das Beste von dem aussuchen, was die Fischer nur ein paar Meter vom Restaurant entfernt aus dem Meer holen.

Erst spät am Nachmittag verlasse ich Fajã dos Padres wieder, diesmal nehme ich den Weg übers Meer in einem kleinen Schiff, das wie eine Nussschale auf den Wellen tanzt. Ein bisschen neidisch auf Mario, Isabel und die wenigen Glücklichen, die eines der Ferienhäuschen gemietet haben. Denn sie dürfen im Garten Eden bleiben und bei einem Gläschen Madeira zuschauen, wie die Sonne im Meer versinkt.

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