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Ostsee außer Dienst: Wanderung durchs Salzhaff

Wenige Menschen, unmöblierte Strände und keine Warteschlangen vor den Fischbrötchenbuden: Zu Beginn des Jahres gönnt sich das Salzhaff eine Auszeit

  • Nicole Quint
  • Lesedauer: 5 Min.
Ein Reich voll strenger Schönheit: Das Salzhaff
Ein Reich voll strenger Schönheit: Das Salzhaff

Die Dämmerung zieht gerade die letzten Nachtreste vom Himmel. Langsam gewinnt die Welt ihre Farben zurück. Die Holländerwindmühle von Stove liegt schon im ersten Licht des Tages. Vom Strandparkplatz geht es erst ein kleines Stück die Straße entlang und dann über einen schmalen Trampelpfad weiter, immer dem Ufer der Halbinsel Boiensdorfer Werder entlang.

Die anderen Frühaufsteher, vor allem Saatkrähen, Goldammern und Graureiher, eskortieren den Weg der Wanderer bis zum Winterstrand – ein Reich voll strenger Schönheit. Die Küste ist blau-weiß, die Schatten purpur und vertrocknetes Röhricht glüht golden. Ein kalter Wind zwickt kräftig in der Nase. Der Atem gefriert in kleinen Wolken, und allein das Knirschen des frostharten Sandes unter den Schuhen durchbricht eine Stille, die nur in der völligen Abwesenheit anderer Menschen zu haben ist. Von denen wagen sich wenige in der kalten Jahreszeit hierher. Zu dunkel, zu kalt, zu stürmisch – alles nur daheim mit heißer Schokolade und Hausschuhen aus Schaffell zu ertragen.

Irrtum! Der küstenklare Winterzauber steht den bunten Freuden des Sommers in nichts nach. Im Gegenteil: Wer in der Nachsaison hinfährt, erlebt die Ostsee in einem gänzlich anderen Rhythmus, in einer meditativen Ruhe, die zu keiner anderen Jahreszeit so intensiv zu spüren ist. Das gilt vor allem für die Region rund um das Salzhaff. Die flache, durch Sandbänke und Schilfgürtel geschützte Lagune an der südwestlichen Ostseeküste Mecklenburg-Vorpommerns bildete sich vor rund 8000 Jahren, als nach der letzten Eiszeit der Meeresspiegel anstieg. Sie ist über schmale Durchlässe mit der offenen Ostsee verbunden und wird durch regelmäßige Überflutungen mit Salzwasser versorgt.

Die Ostsee zeigt allen, die sich ihr jetzt noch nähern, ihre eiskalte Schulter.

Der hohe Salzgehalt macht das Haff zu einem sehr speziellen Biotop, in dem auch viele artenreiche Salzwiesen entstanden, die als kohlenstoffbindende Klimaschützer leider noch immer nicht genug wertgeschätzt und geschützt werden, die dem Haff aber zu einer ganz besonderen Tier- und Pflanzenwelt verhelfen.

In diese Küstenlandschaft hinein ragt die Halbinsel Boiensdorfer Werder, die sich ideal für Vogelbeobachtung, Naturerlebnisse und Spaziergänge eignet. Sturmfluten haben hier nicht bloß viele kleine Höhlen in die Steilküste gegraben, sondern Jahr für Jahr auch große Flächen weggespült. Einzig ein etwa drei Meter hoher Sandsteinturm trotzte der Erosion und steht nun wie ein Wächter in einigem Abstand zur Abbruchkante. Während im Sommer Campingplatzurlauber sämtliche Teile der Halbinsel bevölkern, die nicht unter Naturschutz stehen, ist hier im Winter kaum jemand.

Die große alljährlich stattfindende Verwandlung vom warmen Licht zu kristallklarem Blau, von Fülle zur Klarheit hat eine Zwischenwelt hervorgebracht: Frost legt seinen weißen Raureifatem über Wiesen, Äcker und Strände, Herbststürme haben längst Blätter von den Bäumen gefegt. Eisklümpchen kandieren nun die Zweige, und an kristallklaren Sonnentagen heben kahle schwarze Äste sich gegen einen eisblauen Himmel ab wie ein besonders filigraner Scherenschnitt.

Tipps

Die Ostsee zeigt allen, die sich ihr jetzt noch nähern, ihre eiskalte Schulter. Es ist an ihren Ufern dann so still, dass die wenigen Geräusche umso klarer hervortreten. Das Rascheln des verdorrten Schilfs zum Beispiel oder das laute Platschen einer Robbe, die sich, aufgeschreckt durch das niedrige Kreisen eines Seeadlers, von ihrem felsigen Liegeplatz ins Wasser fallen lässt.

Gelegentlich gellen die hellen Rufe der Pfeifenten durch die Luft, die ebenso wie Blässhühner, Gänsesäger, Schwäne, Brandgänse und mehrere Zehntausend andere Wasser- und Watvögel gerne im Salzhaff überwintern. Die Chance, hier auf einen Eisvogel zu treffen, der regelmäßig Patrouillenflüge entlang des Küstensaums unternimmt, ist ungleich höher, als einem anderen Menschen zu begegnen. Die nehmen den Pfad um die Halbinsel jetzt nur selten unter ihre Füße. Was sollen sie auch an einem Ort, der nur Menschen beglückt, die zur Stille begabt sind? Menschen, denen Landschaft und Wetter genügen, Eintags-Deserteure, die Fahnenflucht aus der Welt begehen wollen und wissen, dass sich der gefühlte Abstand zum Alltag am Salzhaff in Lichtjahren messen lässt. Melancholie und Besinnlichkeit in geisterhaft leerer Gegend ist nichts für Touristen, die abhängig von Erlebnis- und Einkaufskultur sind.

Und so ist der Wanderer meist allein mit den täglichen Uraufführungen der Natur, begleitet nur vom Raunen der Ostseewellen, dem Summen des allgegenwärtigen Windes und den stets ein wenig empört klingenden Rufen der Austernfischer. Dennoch ist der Werder im Winter weit mehr als nur ein verlassener Ort, sondern ein Raum, der eine tiefere Verbindung zur Natur eröffnet. Schlicht und unverstellt – und gerade deshalb beeindruckend. Nichts drängt sich auf, nichts lenkt ab. Selbst die Farben scheinen sich auf das Wesentliche zu beschränken, dafür aber umso intensiver zu leuchten. In dieser unverstellten Einfachheit liegt eine Einladung, die Welt mit anderen Augen zu sehen. Es braucht nur die Andersartigkeit der Winterwelt, um dem Nahen und Vertrauten wieder einen besonderen Reiz zu verleihen. Was, wenn Reiseabenteuer also gar nicht in der Ferne liegen, sondern es nur einer anderen Wahrnehmung bedarf, um Neues zu entdecken; wenn man einfach nur zur vermeintlich falschen Zeit am richtigen Ort sein muss?

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Dann wird auch klar, dass die spröde Schlichtheit der winterlichen Ostsee kein Mangel ist, sondern das allerbeste Gegenmittel für unsere überkomplexe, rasant beschleunigte Welt, die uns immer mehr überfordert. Wir sehnen uns nach Entzug. So wird Leere zum Luxus. Wo alles sofort verfügbar scheint, bietet das Salzhaff nichts – und gerade darin alles. Seine Weite zwingt uns zur Langsamkeit, seine Kargheit zur Aufmerksamkeit.

Rachel Carson, US-amerikanische Pionierin der Umweltbewegung, schrieb, dass, wenn sie jedem Neugeborenen ein Geschenk machen könnte, dies »ein Gefühl des Staunens« wäre, welches »so unzerstörbar ist, dass es ein Leben lang anhält«. Wer das Staunen neu- oder wiederentdecken möchte und damit im Winter beginnt, der erlebt am Haff, wie der Blick geschärft und auf Details gelenkt wird. Auf feine Eiskristalle zum Beispiel, die sich wie ein Pelz über umgestürzte Baumstämme, Halme und Algen gelegt haben oder auf all die fantastischen Formen der gelben und silbernen Flechten, die mal Muscheln oder Geweihen, mal ganzen Kontinenten ähneln. Eine solche Aufmerksamkeit ist der Anfang eines achtsameren Umgangs mit der Natur – und bestenfalls sogar mit uns selbst.

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