Venedig im Advent: Feierabend für die Gondolieri

Vorweihnachtszeit in der sonst so quirligen Lagunenstadt: »Stille Nacht« und lange Schatten in den Gassen

  • Helge Sobik
  • Lesedauer: 4 Min.
Winterlicher Sonnenaufgang: Blick von der Colonna di San Marco e San Teodoro auf die Lagune mit der Kirche Giorgio Maggiore im Hintergrund
Winterlicher Sonnenaufgang: Blick von der Colonna di San Marco e San Teodoro auf die Lagune mit der Kirche Giorgio Maggiore im Hintergrund

Es ist, als ob von einem Balkon im Cannaregio-Viertel an diesem Abend Weihnachtslieder in die dunklen Gassen herabrieseln und in den schwarzen Kanälen zwischen den fest vertäuten und mit blauen Planen bedeckten Booten versinken: erst die Melodie von »Stille Nacht, heilige Nacht«, dann ein italienisches Lied zu einer anderen Notenfolge – bis jemand oben in der Wohnung im zweiten Stock die Balkontür wieder schließt, die Musik nun fast verschwunden ist. In zwei Fenstern hängen elektrisch beleuchtete Weihnachtssterne, ein paar Schritte weiter sind Kerzen hinter einem grobmaschig gewebtem Vorhang zu erahnen. Und irgendwo in der Ferne läuten die Glocken einer Kirche über der Lagunenstadt.

Ruhig ist es geworden – nicht nur in den engen Gassen des alten Handwerkerviertels von Venedig, auch auf der von Geschäften gesäumten Strada Nuova, die mit ein paar Verzweigungen auf den Markusplatz zuführt und unterwegs ein paar Mal den Namen wechselt. Nur einzelne Schritte hallen in den Seitengassen durch die Nacht, werden von den Fassaden der drei- und viergeschossigen Häuser hin und her geworfen. Lange Schatten eilen über die gewölbten Brücken, und mancherorts zieht zarter Nebel über dem Wasser auf. Von irgendwoher lacht jemand aus dem Dunkel, und in einem Hauseingang küsst sich ein Paar.

Sogar Weihnachtsbäume haben Einzug in die venezianische Kulisse gehalten.

Spätabends ist es still in Venedig, fast einsam in den Straßen entlang der Kanäle, in den Schluchten zwischen den Patrizierhäusern aus einer anderen Zeit. Manchmal wirkt es ein wenig geisterhaft – bis eine Straßenbiegung und zwei kleine Brücken weiter wieder Weihnachts-Deko ins Blickfeld gerät und aus der einen Spalt breit geöffneten Tür einer Kirche Weihnachtsmelodien klingen. Diesmal sind es helle Stimmen, und noch nicht jeder Ton sitzt: Es wird die Generalprobe sein, denn für den übernächsten Abend kündigt das Plakat an der Tür die Premiere an, Auszüge aus Bachs Weihnachtsoratorium soll es geben – diesen Sonntag und danach noch an ein paar weiteren Terminen.

In Venedig, dieser ansonsten fast immer vor Touristen überquellenden Stadt, ist in der Vorweihnachtszeit vergleichsweise wenig los – und besonders wenig an den Abenden. Denn ist es erst mal dunkel und kühl geworden, dann verschwinden die Tagesbesucher bereits früh wieder mit den Linienbooten Richtung Hauptbahnhof außerhalb des historischen Zentrums. Und sogar die Herren mit den flachen, hellen Hüten, die tagsüber in Grüppchen an den Stegen auf Kundschaft warten, mit einer Handbewegung auf ihre schmalen schwarzen Holzboote weisen und ständig »Gondola? Gondola?« rufen, sind wie vom Erdboden verschluckt. Feierabend für die Gondolieri. Sie machen ihre Geschäfte zu anderen Tages- und mehrheitlich auch zu anderen Jahreszeiten.

Venedig in der Vorweihnachtszeit – das sind natürlich auch Weihnachtsmärkte wie anderswo, das sind Lichterketten, das sind sogar ab und zu als Weihnachtsmänner verkleidete Ruderer auf dem Canale Grande, weil irgendwer mal meinte, so etwas würde den Tourismus ankurbeln. Es gibt Stände mit gerösteten Maronen, Süßigkeitenläden mit Bergen von Schoko-Weihnachtsmännern und Türmen von Panettone-Kuchen. An einer Fassade nahe der Rialto-Brücke leuchten elektrische Weihnachtssterne, in den Schaufenstern hat es weißes Konfetti geschneit.

Und sogar Weihnachtsbäume haben Einzug in die venezianische Kulisse gehalten, die jahrhundertelang ohne dekorierte Tannen auskam. Aber auch die Krippen gibt es noch, die früher auffälligstes Zeichen der Vorweihnachtszeit in der Lagunenstadt waren.

Aus all dem machen vor allem die Abende etwas ganz Besonderes, diese Spaziergänge bei Dunkelheit, wenn die Reflexionen einzelner Lichter im Wasser der stillen Kanäle die eigentliche Weihnachtsbeleuchtung sind. Von irgendwo her zieht noch ein Schwade Röstmaronen-Geruch herüber, von anderswo her duftet es nach Vanilleplätzchen, die gerade jemand zu Hause bei halb geöffnetem Fenster backt. Endlich ist es still genug in der Lagunenstadt, um den Zauber im Alltag zu finden.

Erst an den Weihnachtsfeiertagen füllen sich Hotels wie Straßen langsam wieder mehr, und an Neujahr herrscht plötzlich Rummel wie im Sommer. In den Wochen vor Weihnachten aber scheint dieses adventliche Venedig zur Ruhe zu kommen. Das liegt vor allem am Wetter, denn im Dezember ist Venedig nicht diese Katalogschönheit wie auf den Karnevals- und den Sommerbildern. Schnee gibt es zwar fast nie, hauchzarte Eisschichten auf den Pfützen am Morgen manchmal. Oft ist es nasskalt, neblig. Ob das für Fremde schlimm ist? Eher im Gegenteil. Es ist ein Erlebnis. Eines, das zu einer Stadt in so einer Lage passt.

Und dann ist da wieder die Melodie von »Stille Nacht«. Der Abendwind holt sie diesmal aus einem Hof, lässt sie über Dächern nicht weit vom Campo Santa Maria Formosa wieder fallen – diesmal mit italienischem Gesang. Zwei Frauenstimmen singen »Astro del ciel«, so heißt der Klassiker hier. Und die wenigen Passanten halten an und lauschen.

Die Recherche wurde unterstützt von Novasol.

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