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Łódź: Die längste Bummelmeile Europas
Spaziergang durch das winterliche Łódź auf den Spuren seiner Industriegeschichte
Es schneit in Łódź. Die Flocken rieseln, malen weiße Tupfen auf die roten Backsteinwände von »Manufaktura«. Die langgestreckten, teils auch hohen Klinkerbauten dieser riesigen historischen Fabrikanlage zieren aufwendig gestaltete Fassaden, Mauern, Türme, Tore.
Seit Abschluss der vierjährigen Restaurierung, inklusive Umbau 2006, dienen das 27 Hektar große Areal und viele einstmalige Werksgebäude als Einkaufszentrum mit Hotel und vielen gastronomischen und Freizeitangeboten. In den topmodernen Innenräumen wird geshoppt, gegessen, übernachtet und gespielt, 3D-HD-Kino geschaut, gelernt, getanzt, gebowlt, geklettert. Auch das staatliche Kunstmuseum ms2 hat hier ein Domizil gefunden.
Im großen Essbereich, dem Qulinarium, drücken sich Kinder an den Glaswänden die Nasen platt. Draußen fällt der Schnee auf Weihnachtsbäume, Karussells und Schlemmerbuden. Klar, das will man nicht nur aus der Ferne sehen! Per Rolltreppe geht es hinunter und hinaus ins bunte winterliche Treiben.
Łódź ist Polens Kino-Hauptstadt.
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Aus der einen Hütte duftet es nach warmen Pączki-Krapfen, aus anderen nach heißem Kirschsaft und -likör, Glühbier oder Oscypek, dem Räucherkäse aus Podhale in Südpolen. Bald bedeckt der Schnee den ganzen weitläufigen Platz, den sich zu jeder Zeit nur Fußgänger und Fahrradfahrer teilen. Sein Name ist »Manufaktura-Markt« oder »Marktplatz der Textilarbeiterinnen«. Er gilt als meistbesuchte Freifläche der Stadt, die für Jahrzehnte zu den wichtigsten und größten Industriestandorten in Europa zählte.
Im Sozialismus gab es durchaus gute Jahre. Doch seit den 70ern ging es hauptsächlich abwärts. Nach dem Zusammenbruch der Volksrepublik erlebte Łódź ein wirtschaftliches und soziales Trauma. Der Heilungsprozess mittels Sonderwirtschaftszone und der strukturelle Wandel brauchten Zeit. Mittlerweile rangiert Polens viertgrößte Stadt auch in puncto Wirtschaft wieder unter den ersten zehn.
Die Klischees von ihrem Schmuddel-Image sind längst überholt. Doch immer noch wird sie stigmatisiert, erhält bei Attraktivitätsvergleichen deutlich schlechtere Bewertungen als etwa Mitbewerberinnen, die mit einer »mittelalterlichen« Altstadt punkten. Gerade die Fabriken, die Łódź früher grau und schmutzig machten, retten es – für zeitgemäße Zwecke transformiert – in eine neue Ära, die auf Handel, Service, Unterhaltung, Biotech, Computer sowie Haushaltstechnik setzt.
Wer heute Łódź besucht, trifft eine wache, sehr lebendige, dynamische und unternehmungslustige Kulturstadt – genauso freundlich, offen und flexibel wie die Menschen, die hier leben und sich noch über Gäste freuen können.
Know-how aus dem Erzgebirge
»Im 19. Jahrhundert entwickelte sich Łódź von einem unbedeutenden Agrarstädtchen zu einem Hotspot der Textilherstellung. Fachleute und Arbeiter warb man dafür auch in Schlesien, Hessen oder Schwaben sowie Sachsen – insbesondere aus dem Raum Chemnitz, wo die textile Industrie damals schon fortgeschritten war«, weiß Gästeführerin Anna Jóźwiak und verweist darauf, dass Łódź und Chemnitz seit 1974 Partnerstädte sind. Mit den Produktionsbetrieben wuchs die Stadt unweit von Warschau in schwindelerregender Geschwindigkeit.
Zählte sie im Jahre 1790 gerade einmal 200 Bewohner, waren es um 1915 bereits 600 000. Zu etwa einem Drittel bestand die Bevölkerung aus Juden. Die meisten waren arm und lebten in einem Viertel, das die Nazis 1939 zum berüchtigten »Ghetto Litzmannstadt« machten – bis 1945 ein Sammelort zum Abtransport in die Vernichtungslager.
Reichtum und geschäftlicher Erfolg waren nur den wenigsten vergönnt. Zu ihnen gehörte der jüdische Industrielle Izrael Poznański, einer der drei »Baumwollkönige« von Łódź. Ab 1872 ließ er die Fabrik erbauen, aus der einmal »Manufaktura« werden sollte. Neben einer fünfstöckigen Baumwollspinnerei, Webereien, Färbereien, Werkstätten und Lagerhallen, Kraftwerk, Lokschuppen und Feuerwache umfasste der Komplex auch Wohnhäuser für Arbeiter, ein Krankenhaus und Schulen. In den »besten Jahren« seines Unternehmens arbeiteten rund 7000 Menschen für Poznański.
Sich selber und seiner Familie gönnte er ganz unbescheiden eine Residenz im Stile eines Opernhauses oder Königsschlosses direkt neben dem Fabriktor – wo sie noch immer steht. Der protzige eklektische Palast, jetzt Museum der Stadt Łódź, ist genauso akkurat saniert wie alle anderen verbliebenen Gebäude der Fabrik.
Bis zum Bankrott der Nachfahren Poznańskis und Übernahme durch die Bank 1930 blieb das Unternehmen im Familieneigentum. 1939 übernahmen es die Deutschen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Betrieb verstaatlicht. Seit den 70er Jahren nannte man ihn Poltex.
»Schwer war die Arbeit hier zu jeder Zeit, besonders für die Frauen. Sie stellten stets mehr als die Hälfte der Beschäftigten«, erläutert Anna Jóźwiak im Fabrikmuseum. Das zeigt unter anderem ein sehr berührender Dokumentarfilm von 1972. Darin schildern Schichtarbeiterinnen ihren harten Alltag unter sozialistischen Bedingungen und die mehrfache Belastung durch den Job, die Kinder und den Haushalt.
Anna sagt: »Jede Familie hier hat dazu ganz persönliche Bezüge, kann von den Nöten und Entbehrungen berichten.« Sie selbst denkt an die knappen Löhne, von denen man nicht kaufen konnte, was man brauchte, denkt an die Streiks und Demos, aber auch ihre Tante Bożenka, die durch die langen Arbeitsjahre in der lauten Weberei fast taub geworden war.
Mit unzähligen Einzelschicksalen sind auch die anderen Fabriken in der Stadt verbunden. In manchen Quellen ist von Tausenden die Rede. Erhalten sind zumindest ein paar Hundert. Die meisten stammen von vor 1930. Alle teilen die Geschichte Łódźs und haben eigene Kapitel zu erzählen. Etlichen der Zeitzeugen aus Ziegelsteinen ist ihr Alter anzusehen. Bei manchen wird außer der Bausubstanz auch Patina bewahrt. Viele wurden restauriert und für den heutigen Gebrauch modernisiert. Kreativen Raum bieten fast alle.
Bunte Lichter, Fabelwesen
Zu den sehenswertesten gehören »Księży Młyn« – die Pfaffenmühle mit dem Filmmuseum (Łódź ist Polens Kino-Hauptstadt und Sitz der Filmakademie sowie der Staatlichen Hochschule für Film, Fernsehen und Theater, Austragungsort mehrerer Filmfestivals und seit 2017 offizielle Unesco-Filmstadt), »Biała Fabryka« – die Weiße Fabrik mit dem Textilmuseum, aber auch die Kulturfabrik »OFF Piotrkowska« mit Kneipen, Bars und Clubs.
Zu Letzterer führt ein empfehlenswerter Stadtspaziergang von »Manufaktura«. Von dort ist es nicht weit bis zum Plac Wolności (Freiheitsplatz), wo seit dem 29. November und noch bis zum 6. Januar der Weihnachtsmarkt geöffnet ist. Direkt dahinter, zwischen Altem Rathaus und der Heiliggeist-Kirche, beginnt die schicke und noch immer bodenständige Ulica Piotrkowska (Piotrkowska-Straße).
Mit über vier Kilometern Länge gilt sie europaweit als längster Boulevard für Fußgänger. Hier gibt es Geschäfte, Restaurants, Cafés – manche hinter einer Toreinfahrt versteckt. Doch ganz egal, ob mit Bewirtung oder ohne: Beim Bummeln sollte man es nicht verpassen, hin und wieder einen Blick in einen Innenhof zu werfen.
Der wohl bekannteste ist Pasaż Róży (Różas Passage). Dort verarbeitete die Künstlerin Joanna Rajkowska die Augenkrankheit ihrer Tochter in einem bemerkenswerten Spiegelscherben-Mosaik, das sie an den Wänden des Antoni-Engel-Hauses installierte. In seinen Räumen befand sich das erste Hotel von Łódź.
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Am Ende der Piotrkowska warten dann das OFF und ein paar Schritte weiter, am Plac Niepodległości (Platz der Unabhängigkeit), das »Einhorn«. Die vier Meter lange Edelstahl-Skulptur des japanischen Künstlers Tomohiro Inaba verdankt ihre Existenz der zentralen Straßenbahnhaltestelle vis-à-vis. Das futuristische Konstrukt trägt nämlich ein sehr farbenfrohes transparentes Foliendach, das Kenner der modernen Popkultur in die vermeintlich buntglitzernde Welt der Einhörner verbannen wollten. So kam der Säulenbau zu seinem Kosenamen »Einhornstall«.
Noch schillernder als jedes Einhorndach wird später der Besuch im »Park der Millionen Lichter« am Rand des Zoos, den man in Łódź als »Orientarium« bezeichnet. Bei der stillen abendlichen Tour abseits der Gehege geht es nicht um echte Wesen, sondern fantasievolle, illuminierte Tierfiguren und stimmungsvolle Leuchtkulissen vielerlei Gestalt.
In hellem Schein strahlt jetzt am Abend auch der Marktplatz von »Manufaktura«, wo man sich an und auf der Eisbahn trifft. Schlittschuhläufer sausen oder schlurfen wackelnd übers frostige Parkett. Die Lichter blitzen auf den blanken Kufen. Eine Könnerin zeigt elegante Arabesken, gleitet mühelos auf einem Bein an allen anderen vorbei. Zwei Paare haben sich verheddert. Lachend landen alle bäuchlings auf der kalten, glatten Fläche. Passend dazu dröhnt Icona Pop aus dem Musiklautsprecher: »I don’t care, I love it« – Mir egal, ich liebe es!
Die Recherche wurde unterstützt vom Polnischen Fremdenverkehrsamt.
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