Leseprobe
Mensch sein in Auschwitz?
Vater, Großvater, wir, deine Töchter und Enkel, fragen dich, wir bitten dich, dass du uns erklärst: Wie konntest du dort sein? Wie konntest du Mensch bleiben? Wie konntest du deinen Verstand bewahren? Wie konntest du den Schrecken entkommen? Und was gab dir die Kraft, weiterzukämpfen, nicht einfach aufzugeben?
Wozu?
Wir wollen verstehen. Wir wollen versuchen zu verstehen Wie bist du zu dem geworden, der du heute bist? Ein kluger Vater und Großvater, stark, neugierig, gebildet, aufgeklärt, lustig und traurig - und voller Liebe für uns. Schone uns nicht. Halte dich nicht zurück und schütze uns nicht. Wir sind schon erwachsen, also bitte, erzähle alles, von Anfang an. Auch wir werden dich nicht schützen, werden die Fragen, die aus dem Kopf und aus dem Herzen kommen, offen stellen, und so werden wir vielleicht die Bruchstücke zu einer Antwort auf die gewaltige und beängstigende Frage zusammenfügen können, die uns unser Leben lang begleitet:
Shalom widmete sich also dem Schreiben seiner Lebensgeschichte. Nachdem er geendet hatte, gab er jedes Kapitel seinen Töchtern und Enkeln. Sie sogen jedes Wort in sich auf und stellten ihm Fragen, teils zu den Tatsachen, teils zu seinen Gefühlen.
Shalom las sie und begann wieder, in den verborgenen Tiefen seiner Erinnerung und seiner Seele zu forschen. Dann antwortete er ihnen, so gut er konnte. Am Ende fragte sich auch Shalom: «Wie war es mit uns, den Überlebenden, aufzuwachsen, ohne Familie, im Schatten der Shoa? Wie ist es, die zweite und dritte Generation zu sein?
Danach schrieben seine Töchter, Ilana und Rivka, und seine Enkel und Enkellinnen Eran, Noa, Tamar und Daniela ihre Erinnerungen auf. Die zweite und dritte Generation versuchen zu verstehen. - Und wir versuchen es immer noch.
Aus dem Erinnerungsbuch von Shalom Weiss »›Wie konntest du Mensch sein in Auschwitz?‹ Drei Generationen versuchen zu verstehen« (Westend, 511 S., geb., 26 €).
Wir sind käuflich. Aber nur für unsere Leser*innen.
Die »nd.Genossenschaft« gehört ihren Leser:innen und Autor:innen. Sie sind es, die durch ihren Beitrag unseren Journalismus für alle zugänglich machen: Hinter uns steht kein Medienkonzern, kein großer Anzeigenkunde und auch kein Milliardär.
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ unabhängig und kritisch berichten
→ übersehene Themen aufgreifen
→ marginalisierten Stimmen Raum geben
→ Falschinformationen etwas entgegensetzen
→ linke Debatten voranbringen
Mit »Freiwillig zahlen« machen Sie mit. Sie tragen dazu bei, dass diese Zeitung eine Zukunft hat. Damit nd.bleibt.