Aufklärung statt Stigmatisierung

Aktionen zum Weltalphabetisierungstag

  • Florian Brand
  • Lesedauer: 3 Min.

Wer lesen kann, ist klar im Vorteil, heißt es im Volksmund. Schrift ist ein Instrument der Macht, sagt der französische Soziologe Pierre Bourdieu. Wer nicht lesen oder schreiben kann, hat geringe bis gar keine Chancen, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. In Deutschland können rund 7,5 Millionen Erwachsene nicht richtig lesen und schreiben. Jeder siebte Erwachsene ist ein funktionaler Analphabet, das hat 2011 die Studie Level-One Survey der Universität Hamburg gezeigt. Funktionale Analphabeten könnten im Gegensatz zu vollständigen Analphabeten einzelne Wörter bis hin zu einfachen Sätzen lesen oder schreiben, heißt es in der Studie.

Zum Weltalphabetisierungstag am Freitag machen Fachleute auf die immer noch hohe Zahl funktionaler Analphabeten aufmerksam. Mehr als 50 Aktionen sind deutschlandweit zum 51. Weltalphabetisierungstag geplant. Selbsthilfegruppen, Volkshochschulen, Künstlerinnen und Künstler werben für mehr Akzeptanz in der Bevölkerung und informieren über das Ausmaß unzureichender Lese- und Schreibkompetenz.

Für Jan-Peter Kalisch vom Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung ist ein hohes Maß an Verständnis nötig, denn das Thema sei in der Bevölkerung noch immer weitestgehend unbekannt. »Viele machen große Augen, wenn ich ihnen zum ersten Mal davon erzähle«, sagt Kalisch. Nicht selten folge daraufhin eine Schuldsuche bei den Betroffenen. Das mache die Sache extrem schwierig, denn für viele Betroffene steigt damit auch die Hürde, sich zu outen und Hilfe zu suchen.

Das fange bereits bei Kindern in der Grundschule an. »Niemand bekommt vom Lehrer gerne attestiert, dumm zu sein.« Die Gründe, weswegen Menschen es in den ersten Schuljahren versäumen, anständig Lesen und Schreiben zu lernen, seien jedoch vielfältig und individuell sehr unterschiedlich.

Um dem entgegen zu wirken, hat CDU-Bildungsministerin Johanna Wanka im vergangenen Jahr die »Dekade für Alphabetisierung« ausgerufen. In den kommenden zehn Jahren wollen Bund und Länder demnach die »Lese- und Schreibfähigkeit von Erwachsenen in Deutschland deutlich verbessern«, heißt es. Das Bundesbildungsministerium will in dieser Dekade mit bis zu 180 Millionen Euro Alphabetisierungsprojekte fördern sowie Kurskonzepte und Selbstlernmöglichkeiten schaffen.

Für die bildungspolitische Sprecherin der Linkspartei, Rosemarie Hein, ist das lediglich ein »Tropfen auf dem heißen Stein«. Ihr geht es in erster Linie um eine dauerhafte Bildungsfinanzierung. Die Probleme fingen nicht erst in viel zu vollen Klassenzimmern an, sondern bereits bei der Ausbildung neuer Lehrkräfte, so die Lehrerin. Viele der Kinder fielen durchs Raster, weil Lehrkräften die Zeit oder die Nerven fehlten, sich um betroffene Kinder zu kümmern. »Das hat auch damit zu tun, wie unser Schulsystem gestrickt ist. Wenn Output kommt, interessiert es nicht, wie und wo der herkommt.«

Kinder gelten in Deutschland nach der dritten Klasse als alphabetisiert. Wer es bis dahin nicht schafft, fällt durchs Raster. Viele entwickeln über die Jahre ausgeklügelte Strategien, um sich im Alltag zurecht zu finden. Tatsächlich besitzen fast 80 Prozent der funktionalen Analphabetinnen und Analphabeten einen Schulabschluss. Einige studieren sogar. Trotzdem bleiben vielen funktionalen Analphabeten Aufstiegschancen verwehrt, betont Kalisch. Er schätzt die Zahl der prekär beschäftigten Analphabeten auf 60 Prozent. Viele übten klassische Hilfsarbeiten aus, beispielsweise auf Baustellen, in der Gastronomie oder im Reinigungsgewerbe. Existenzbedrohend werde es, wenn es zu Umstellungen im Betrieb komme, die lediglich schriftlich mitgeteilt würden. »Das ist eine enorme psychische Belastung«, so Kalisch.

Der Aktionstag wurde vor 51 Jahren von der Unesco ins Leben gerufen. Weltweit können nach Angaben der Bildungsorganisation der Vereinten Nationen 750 Millionen Menschen über 15 Jahren nicht lesen und schreiben.

Der Bundesverband Alphabetisierung bietet seit rund 30 Jahren Hilfen für funktionale Analphabeten in Deutschland an. Neben Bildungskursen an Volkshochschulen gibt es das kostenlose Beratungstelefon »Alfa-Telefon« sowie interaktive Lernportale im Internet.

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