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Die kurdische Sehnsucht nach Souveränität

  • David Gutensohn
  • Lesedauer: 5 Min.

Hektisch durchlaufen Frauen und Männer die engen Gassen der Märkte. Es ist vormittag, kurz bevor die Sonne für unerträgliche 44 Grad sorgen wird. Kurdo lebt hier, in Erbil, der Stadt im Nordirak, in der es mittags drückend heiß wird. Mit Blick auf die Zitadelle und den großen Brunnen der Stadt steht er täglich in einem kleinen Laden. Hier verkauft er traditionelle Tücher, Turbane und Mützen. Mit seinen 72 Jahren hat Kurdo viel Blutvergießen miterlebt. Ob unter der Diktatur Saddam Husseins oder im Kampf gegen Irak: »Wir haben viel gelitten«, sagt Kuro. Erst seit er in Erbil ansässig geworden ist, hat sich seine Lage verbessert.

Seit 2005 hat sich in der Stadt kein Anschlag mehr ereignet. Und das, obwohl Irak neben Syrien als Kriegsgebiet gilt. Die einstige IS-Hochburg Mossul ist nur eine Stunde Autofahrt entfernt. Erbil liegt zwar im irakischen Staatsgebiet, steht aber unter der Verwaltung der Autonomen Region Kurdistan. Als im Irakkrieg 1992 eine Flugverbotszone errichtet wurde, ergriffen die Kurden ihre Chance. Über die Jahre hinweg etablierten sie ein eigenes Parlament, wählten ihren Präsidenten und bildeten Polizei- und Militärkräfte aus. Ein eigenes Land, so wie es ihnen bereits 1920 im Vertrag von Sèvres versprochen worden war, ist jedoch nie entstanden.

Kurdo ist einer der schätzungsweise 30 Millionen Kurden, dem weltweit größten Volk ohne eigenen Staat. Geht es nach ihm, soll sich das schnellstmöglich ändern. »Ich warte auf diesen Tag, solange ich denken kann«, sagt er. Während er einen seiner Turbane verkauft, wehen unzählige Flaggen und Plakate rund um den Marktplatz an der ältesten durchgängig bewohnten Zitadelle der Welt. In den Farben rot, weiß und grün wird auch in Erbil für das Unabhängigkeitsreferendum geworben. International ist das Votum verpönt. Einzig Israels Premierminister Netanjahu und Emmanuel Macron haben sich nicht gegen das Referendum ausgesprochen. Immer noch wollen amerikanische und britische Diplomaten sowie Vertreter der Vereinten Nationen die Abstimmung verschieben. Die Koalition fürchtet den Kurdexit und mögliche Unruhen.

USA, Irak, Iran und Türkei lehnen kurdische Unabhängigkeit ab

Denn die irakische Zentralregierung lehnt ein unabhängiges Kurdistan ab. Erst kürzlich forderte das oberste Gericht die Absage der Abstimmung. Zudem beansprucht Bagdad gleich mehrere der am Referendum beteiligten Regionen für sich. Das birgt Konfliktpotenzial. Vor allem das US-Außenministerium sieht darin ein Problem, haben sich die Beziehungen zum irakischen Präsidenten Haider al-Abadi doch gerade erst verbessert. 2018 stehen Parlamentswahlen an, da kann al-Abadi kein Störfeuer gebrauchen. Zudem könnten die aufkeimenden Konflikte die Peschmerga-Truppen vom Kampf gegen den IS ablenken, so die Befürchtung.

Gleichzeitig drohen Iran und die Türkei mit Vergeltung, wenn die Kurden für ihre Unabhängigkeit stimmen. Beide Staaten fürchten seperatistische Kurden-Bewegungen in ihren Gebieten. Trotz der wirtschaftlichen Beziehungen zur Türkei, 2013 eröffnete Kurdistan gegen den Willen Iraks eine Öl-Pipeline nach Ceyhan, will Erdogan hart reagieren. In Syrien und auch in Irak bombadiert er kurdische Gebiete, den Friedensprozess mit den türkischen Kurden hat er bereits vor einigen Jahren gestoppt. Ankaras Hardliner fordern im Falle eines erfolgreichen Referendums einen militärischen Einsatz.

Liberales und klammes Kurdistan

Auf den Straßen Erbils gibt es für die internationalen Sorgen kaum Verständnis. Zu lange schon werden die Kurden an ihrem Selbstbestimmungsrecht gehindert, so der Tenor. Beinahe täglich versammeln sich Bürger im Sami Abdulrahman Park, um für die Unabhängigkeit zu demonstrieren. So auch beim ersten Farbenfestival. Tausende junge Menschen strömten dazu in den Park, warfen mit Farbbeuteln und schwenkten zu Popmusik kurdische Flaggen. Veranstaltungen wie diese zeigen das Kurdistan, das als Hoffnungsträger für den arabischen Raum gilt. Im Gegensatz zu den Nachbarstaaten gibt es im liberalen Kurdistan keinen Verschleierungszwang, Alkoholverbote oder verhaftete Journalisten. »Dieses Mal dürfen wir uns von außen nicht reinreden lassen«, sagt einer der buntbemalten Festivalbesucher. Als kurze Zeit später die Vereinten Nationen ihren Vorschlag zur Verschiebung des Referendums unterbreiten, zieht er mit tausenden Demonstranten vor die UN-Niederlassung. »Wir haben keine Freunde, aber die Berge«: Auch 2017 ist dieser kurdische Spruch noch immer präsent.

In der Hauptstadt des kurdischen Gebiets in Nordirak drängen sich aber vor allem andere Sorgen auf. Kurdistan steckt infolge des drastisch gesunkenen Ölpreises in einer wirtschaftlichen Krise. Hinzukommt, dass die irakische Zentralregierung wichtige Geldzahlungen eingestellt hat. Die Frustration ist groß. Wenn die Scheidungspapiere unterzeichnet sind, könnte die Krise überwunden werden, so die Hoffnung. Entstehen soll der erste eigene Staat. Multiethnisch, demokratisch und förderal soll er werden. Konkreter wird Präsident Barzani bei den unzähligen Kundgebungen nicht. Ohnehin soll es nach dem Referendum erst einmal Verhandlungen mit Bagdad geben.

Damit das gelingen kann, muss der Barzani-Clan, der alle wichtigen Schaltstellen besetzt, nach dem Referendum abtreten. Seit zwei Jahren ist der Präsident ohne Mandat. Im Zuge der IS-Kämpfe und innerkurdischer Konflikte wurde das Parlament ausgesetzt. Im November soll es Neuwahlen geben. Barzani und seine Familie werden laut eigener Aussage nicht mehr kandidieren. Vor allem in der zweitgrößten Stadt Sulaimaniyya halten das viele für eine gute Idee. Dann kann ein Neustart gelingen, der dem jahrzehntelange Blutvergießen ein Ende setzen könnte. Auch Kurdo hofft auf einen solchen Neubeginn. Dann könnte er Wirklichkeit werden, sein Traum eines Tages traditionelle Turbane in einem unabhängigen Staat namens Kurdistan zu verkaufen.

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