Clowns im ersten Lehrjahr

»Caligula« von Albert Camus eröffnete die Intendanz Oliver Reeses am Berliner Ensemble

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Das rote Herz wird groß und größer - und platzt. Der Tod eines Menschen: Caligula tritt dem Opfer auf den Bauch, wie man eine Luftpumpe betätigt. Des Sterbenden Herz ist ein Luftballon zwischen dessen Lippen. Aufblasen bis zum Knall. Ein makaber treffliches, ein starkes Bild. So erzählend wie - enthüllend. Theater der Jüngeren. Plopp! Peng! Noch der Tod ist ein Scherz. In einer Welt, wo alles nur gebrochen auftritt, wären auch Erhabenheit und Ergriffenheit zum Kotzen. Alles verworfen, nur das Verworfene nicht. Leid - verkäuflich nur light? Hoffnung, eine Comicfigur. Charakter, ein Gummiband.

Volker Braun nennt die Utopie »ein Gespenst aus der Zukunft arbeitslos«. Arbeit hat der Nihilismus, er ist Naturparkwärter geworden: Möge über alle Werte schön das Gras wachsen. Albert Camus hat 1925/44 mit »Caligula« eine »Tragödie der Erkenntnis« geschrieben: Wo jenes Wissen ins Hirn schlägt, dass Existenz keinen Sinn und nur das Nichts Bestand hat, dort muss vor dem Menschen gewarnt werden, der diese Sinnlosigkeit und dieses Nichts nicht mehr einfach nur erduldet, sondern es, gewissermaßen der Wahrheit verpflichtet - herbeiführt.

Caligula, der Wahnmörder, der die Dinge nicht nur zu Ende denkt, sondern zu Ende tötet. Mit Camus’ Bühnenerstling eröffnete Regisseur Antú Romero Nunes die erste Spielzeit von Intendant Oliver Reese, dem Peymann-Nachfolger am Berliner Ensemble. Der 33-jährige Nunes ist entschlossen fleißig, um ja kein Abbildner zu sein. Er hält Abstand. Er spielt durch, er ist schnell durch. Rom, das ist ein siebenköpfiges Ensemble, reizbeweglich, so faustdick wie dünnhäutig, freilich: mehr faustdick. Als hätte die Regie eine Bitte erhört: bloß keine Politparodie, aber auch keine falschen Aufwallungen! Runterkühlen das alles; das Labor besetzen, nicht den Olymp.

Aber das hat seinen Preis: im Labor eher Mäuse als Menschen. Spielmäuse, von Goldoni und Rüpel-Shakespeare nach Berlin geliefert, doch vorher durch die Gosse gezogen. Die Frisuren ein verfilztes Strähnenfest. Pluderhose und breiter Schlips überm Schmerbauch. Ganzkörperharlekinaden. Rot verschmierte Münder. Clowns im ersten Lehrjahr: Wie spielt man, dass eine Hand am Bühnenportal festklebt? Böse Ahnungen: Wird Philosoph Camus zum Schrumpfkopf?

Nein, so schlimm wird’s nicht. Denn der dunkle Ton - weniger der Zwischenton - findet auf die Bühne, teilt sich mit der Grobheit und Laxheit des Grand Guignol den Abend. Der sich freilich aus der Kneipp-Kur meldet: immer auf der Stelle treten! Die Inszenierung ist eine Einladung zum Betrachten, weniger zum Erleben. Rom ist volksmäßig drauf, man turnt und trippelt und trampelt drauflos. Diese Welt will den Schubs, und immer kommt der Schubs, den wir Veränderung nennen, aus der Bosheit. Diesem anderen Wort für Menschheit.

Und da nun betritt Constanze Becker die Szene, in der Titelrolle. Ihr Caligula, im flattrigen Nachthemd, offenbart eine fast zarte, somnambul bleibende Souveränität im Abschütteln moralischer Verabredungen. Der Hass, den dieser Mörder auf sich zieht, ist die letzte, höchste Feier von Triumph - des fast überhellen Bewusstseins von einer bleibend finsteren Welt. Die großartige Becker ist wahrlich spitz-findig, der kahle Kopf wirkt viel zu leicht für den schweren, eisernen Geist. Zu leicht, ja, aber in seiner kalkigen Leichenblässe ist dieser Kopf zugleich jenes harte hässliche Blinklicht, das ein berauscht vernünftiger Vernichtungswille ins Leben sendet. Hässlich, ja, aber versehen doch mit schönen großen Augen, die dem mörderischen Sinn etwas Ätherisches geben - wie es sich für einen Menschen wie Caligula gehört, der das Unmögliche will: den Mond, dessen Licht aus dem Bühnenhimmel herabgleißt.

Constanze Becker ist eine Schauspielerin, die noch ihrer leidenschaftlichsten Äußerung einen mürrischen Skrupel oder eine tückisch anmutende Scheu mitgibt. An der rechten Seite ihres dünnen Totentollkopfes laufen Blutspuren herab, als wollten sie Windungen des eisigen Gehirns nachzeichnen. Plötzlich kommt die Becker im Kinderkleid, schwarz bezopft, und spielt »Ave Maria« auf der Blockflöte. Die Becker-Augen können jetzt ins Wesenlose glubschen, und den Abgang krönt ein neckisch-fieses Lächeln. Die Unschuld, ein Jungmädchenreport? Nein, das böseste Spiel.

Manchmal geht diese Schauspielerin wie über Scherben eines Flaschenlagers. Ein Verlorenheitsschimmer umgibt sie, und er wirkt bisweilen, als sei dies eine Isolation auch mitten in dieser tölpelbemühten, geheimnislosen Inszenierung, und als sei jeder Gang ein Gang hinaus aus dem ausbalancierten Horror all der Zerkasperten. Wenn Constanze Becker blickt, starrt, spricht, schweigt, steht, kriecht, dann bekommt eine Kernfrage Körper und Kraft: Liebe? Es gibt keine Liebe mehr und keine bürgerliche Gegend, wenn ein moralischer Trieb den Menschen über alle Grenzen treibt. Und jenes Herz der Finsternis mit Lebensstoff versorgt, das kein Kardiologe attestieren kann. Traue daher niemand seinem Herzschlag der Biederkeit, des Ebenmaßes, des Einverständnisses mit der Gewöhnungsknechtschaft Alltag.

Die Inszenierung (Bühne: Matthias Koch, Kostüme: Victoria Behr) schickt gewaltigen Nebel; sie lässt eine Kettensäge kreischen; sie stellt einen Wald aus Orgelpfeifen auf; vom Schnürboden lässt sie ein Bach singendes Mädchen am Kreuz herab; sie schüttet brennend rotes oder krankes fahles Licht aus; sie sucht immer wieder Bilder - und lässt offen, ob sie Camus sucht oder seine Sentenzschwere überdecken will. Einige dieser Bilder sind, wie die Szene mit dem Luftballon-Herz, bedrängend sinnlich.

Etwa, wenn Caligula, in samtrot gehüllt, in dröhnender Gewitter-Gewalt steht. Constanze Becker steht da wie die schrecklichste aller möglichen Freiheits-Statuen: Da reckt sich das Dämonische - das, was wir sein könnten, wenn wir wirklich frei wären? Dies ist jener Augenblick, da der Kaiser seine Art beschließt, eine Welt zu gründen: also sie zu vernichten. Der Herrscher hebt seinen Kopf in die neue Wahrheit: Gott und Götter sind tot; reine Lehren entstehen im Blutbad. Die Menschen im Hintergrund der Bühne: sturmgeschüttelt, niedergerissen - die Arme, die sie hilflos zueinander ausstrecken, ähneln einer waagerechten Linie aus zuckenden Blitzen. Angst setzt alle unter Strom.

Später singt dieser Caligula Friedrich Hollaenders »Wenn ich mir was wünschen dürfte«, Becker singt innig, singt zaghaft verzweifelt - weil jeder unerfüllte Wunsch aus Traurigkeit kommt und jeder erfüllte Wunsch neue Traurigkeiten zeugt. Der nervös witternde, zwischen Rebellenmut und Versagensfurcht hin- und herschlaksende Cherea des Felix Rech schleicht sich gebeugt, wie von Peitschen getroffen, aus dem frostigen Dunstkreis dieses Caligula, eine Wiederholungsschleife flehend: »Ich will leben und glücklich sein.«

Keine Gesellschaft hat sich je so organisieren können, dass sie radikalen Hass auszutrocknen vermochte. Und keine Radikalität hat sich je so in die Geschichte einschreiben können, dass sie nicht selber verdiente, gehasst zu werden. Brüderlichkeit ist wünschenswert, aber sie bleibt doch die innerste Mitte jener Unklarheit, wie sinnreich zu leben sei. Traurig absurd. Wo Glaube ans bessere Dasein, an die bessere Welt beschworen wird, werden Illusion und Gutgläubigkeit beschworen - wo Glaube verwaltet wird, obsiegen Macht und Egoismus.

Das Ende dieser etwas gar zu durchsichtig wirkenden »Caligula«-Version zeigt den Tyrannenmord. Der tote Kaiser auf dem Cembalo. Den Kopf uns zugewandt. Der Vorhang fällt. Der Kopf bleibt draußen. Er lächelt uns an. »Noch lebe ich.« Tyrannei wächst nach, schneller als Scham und Anstand und Demut. Politisches Bewusstsein, das heißt für Camus: die Sinne geschärft zu halten für ein Glück, das nicht kommt - Bereitsein aber schützt vor ärgster Verrohung, und immer ist diese Haltung, leider, ein Auftrag zur Einsamkeit.

Nächste Vorstellungen: 29. September; 1., 2., 10. Oktober

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