Demokratie war gestern

Ursula Weidenfeld analysiert die immer größer werdende Kluft zwischen Politik und Bevölkerung

  • Stephan Fischer
  • Lesedauer: 5 Min.

»Democracy never lasts long« - Demokratie hält niemals lange. Dieses Zitat von John Adams, dem zweiten Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, stellt Ursula Weidenfeld dem letzten Kapitel ihres Buches »Regierung ohne Volk. Warum unser politisches System nicht mehr funktioniert« voran. Es ist das Kapitel, in dem sie Lösungen vorschlägt, wie die freiheitlichen Demokratien des Westens, insbesondere die bundesrepublikanische, zu reformieren seien. Denn Demokratien, und so ist der Ausspruch Adams auch doppeldeutig zu verstehen, bleiben wirklich nicht lange bestehen - wenn sie sich nicht fortwährend wandeln.

Am Beginn ihrer Analyse stellt sie ebenfalls einen US-Präsidenten. Den derzeit amtierenden Donald Trump. Der habe in seiner Antrittsrede im Januar 2017 »eine verstörende Antwort auf die Sorgen um die Zukunft des Westens« gegeben. Trump »wies den Weg, der den westlichen Demokratien bevorsteht, wenn es ihnen nicht gelingt, ihre politischen Systeme zu stabilisieren und die Zustimmung ihrer Bürger zurückzugewinnen«. Hin zur Autokratie, zum Dauerplebiszit, zum Einmannbetrieb.

Mit dem jahrelangen Einblick einer Korrespondentin und Redakteurin u.a. für die »Wirtschaftswoche« und den »Tagesspiegel« in den politischen und ökonomischen Betrieb der Berliner Republik sieht Weidenfeld das politische System der Bundesrepublik an einem Kipppunkt. Systematisch analysiert sie Teilbereiche der politischen und wirtschaftlichen Sphäre. Und sie beginnt bei der Frau, die wohl auch nach der Bundestagswahl an diesem Sonntag an der Spitze des mächtigsten Landes der EU stehen wird: Angela Merkel. »Uneitel, fleißig, beharrlich«, charakterisiert Weidenfeld sie. Und wirft ihr doch »Todsünden« an der Demokratie vor: Merkel habe die Demokratie geschwächt, um »realpolitisch vorangekommen«. Die Große Koalition ist zum Prinzip effizienten Regierens geworden - gewählte Abgeordnete wurden zu Statisten. Die »asymmetrische Demobilisierung« hat die Opposition und die Wähler gelähmt - indem Merkel deren Forderungen und Themen aus taktischen Gründen übernommen hat. Entscheidungen fällt sie in kleinsten Kreisen - und nicht durch demokratische Abstimmungen. Institutionen wie Bundestag und Bundesrat dienen nur noch »als Kulisse«. Das Parlament ist aber an seiner Degradierung zum Instrument der Regierung auf der einen und den Parteien auf der anderen Seite nicht unschuldig: Mehr als die Hälfte der Abgeordneten werden über Landeslisten gewählt, die von Parteien aufgestellt werden. Die Bindung dieser Parlamentarier an die Wähler ist, anders als bei den Direktkandidaten, viel geringer. »Die Legitimitätskette, die die Demokratie ausmacht, zerreißt an ihrem ersten Glied«, konstatiert Weidenfeld.

In weiteren Kapiteln betrachtet die Autorin Staat und Verwaltung, Wirtschaft, die Medien, aber auch den wachsenden Einfluss von NGOs, den Nichtregierungsorganisationen. Die Perspektive bleibt durchgehend kritisch. Am Beispiel Berlins zeigt sie auf, dass ausgerechnet dort, wo der Staat dem Bürger direkt begegnet, die Erlebnisse und Eindrücke katastrophal sein können - der Terminus »Termin beim Bürgeramt« ist auch über die Hauptstadt hinaus bekannt geworden, um vom BER nicht zu sprechen. Das Verteilen von Knöllchen für Falschparker funktioniert dagegen reibungslos. In Städten und Gemeinden erleben Bürger den Staat. »Erleben sie sich nur als Kunden ihrer Kommune, beginnen sie, Mängellisten zu führen. Begreifen sie sich dagegen als Teil ihres Gemeinwesens, stoppen sie den Verfall.«

Mit vielen Beispielen verdeutlicht Weidenfeld im Folgenden, wie Medien, teils selbstverschuldet, teils technologisch und ökonomisch getrieben, die Rolle als Wächter und »Türsteher der Demokratie« verliert. Eine gesellschaftliche Öffentlichkeit existiert de facto nicht mehr, sie zerfällt extrem schnell in unzählige Teilöffentlichkeiten, zwischen denen kaum noch Austausch stattfindet. Eine Folge davon ist der steigende Einfluss der »fünften Gewalt«, nämlich der Online-Medien. Wo jede Meinung Zustimmung findet, jede - auch die falsche - Information einen Resonanzraum finden kann: »Ein wachsender Teil der früher braven Konsumenten der Hauptnachrichtensendungen folgt heute lieber den Empfehlungen von Freunden und bevorzugten News-Portalen. Die Jüngeren sehen überhaupt kein Problem darin, dass ihnen ein Algorithmus die Nachrichten aussucht. Echte Personen, ausgebildete Journalisten - warum noch?«

Einen immensen Einfluss macht Weidenfeld bei den NGOs aus, - sie seien die »Profiteure der Legitimationskrise der Demokratie«. Ihre Anliegen sind meist gut und edel - aber ist es auch gut, dass sie inoffiziell mitregieren? Am Beispiel Greenpeace macht die Autoren das Ausmaß deutlich: Wäre Greenpeace in Deutschland eine Partei, wäre mit über einer halben Million regelmäßiger Unterstützer größer als die SPD, ihre Anliegen finden Gehör in der Politik. Das Problem: NGOs sind durch das Wohlwollen der Öffentlichkeit legitimiert - nicht aber demokratisch. Und für die meisten trifft auch folgender Befund zu: Im Gegensatz zu Arbeiterbewegungen des 19. Jahrhunderts »verstärken sie eher die Stimmen derjenigen, die schon laut sind. Den Abgehängten begegnen sie mit Fürsorge - doch ihre Sprache sprechen die wenigsten.«

Einen interessanten Exkurs liefert Weidenfeld zu ebenjener Sprache, die das Denken verändert. Begriffssetzungen wie der »Professor aus Heidelberg«, mit der Gerhard Schröder im Wahlkampf 2005 die Steuerpläne von CDU/CSU, ausgearbeitet von Paul Kirchhoff, zunichtemachte, aber auch das »Chlorhühnchen«, das zur Chiffre für die Ablehnung des Freihandelsabkommens TTIP wurde, zeigen: Mit der Sprache kann man die Herrschaft über eine Sache erringen. NGOs haben es dabei viel einfacher, da sie ihre Ziele nicht durch politische Kompromisse verwässern müssen. Das gilt ebenso, wenn auch in anderem Zusammenhang, für wirtschaftliche Akteure, die nur ein sehr klares Ziel haben: Geld zu verdienen. Die »Nationalstaaten müssen erkennen, dass sie ihr Versprechen nicht halten können, die Finanzwirtschaft und die globalen Probleme unter Kontrolle zu bringen«. Ähnlich wie die Macht der NGOs wächst aber der Einfluss der Wirtschaft dort, wo staatliche Regulierung nicht mehr greift. »Sie selbst sind Produzenten von Staatlichkeit geworden.«

Am Schluss ihres Buches stellt Weidenfeld Ansätze vor, wie der derzeitigen Krise, in Deutschland und Europa, zu begegnen ist. »Die Politik der großen Räume, der einheitlichen Verträge scheint an ihr Ende gekommen zu sein.« Direktere Kommunikation, geänderte Wahl- und Repräsentationsmechanismen, einen starken Staat dort, wo er gebraucht wird und am sichtbarsten ist: in den Kommunen. Weidenfeld nennt sowohl Praxisbeispiele als auch Ideen aus vielen Bereichen. Einen direkten Ratschlag an die Kanzlerin hat sie auch parat: um jeden Preis eine neue Große Koalition vermeiden.

Ursula Weidenfeld: Regierung ohne Volk. Warum unser politisches System nicht mehr funktioniert. Rowohlt, 304 S., geb., 19,95 €.

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