Nur bessere statistische Bildung hilft

Wahlprognosen sind ungenau, können aber das Verhalten der Menschen beeinflussen

  • Gert G. Wagner
  • Lesedauer: 5 Min.

Wie immer vor Wahlen werden Veränderungen von ein und zwei Prozentpunkten für die prognostizierten Anteile einzelner Parteien eifrig publiziert und kommentiert. Das ist aber im Grunde skurril, denn die Prognosen beruhen meist nur auf der Befragung von etwa 1000 Wahlberechtigten. Man muss nicht mathematische Statistik studiert haben, um sich ausrechnen zu können, dass hinter einem Prozentpunkt nur zehn Befragte stehen und derart kleine Veränderungen nicht besonders aussagekräftig sein können. Wobei es sogar sein kann, dass durch die notwendige »Umgewichtung« der Rohergebnisse, die durch unterdurchschnittliche Teilnahmebereitschaft einer Befragtengruppe notwendig wurde, hinter einem Prozentpunkt sogar weniger als zehn Befragte stehen können.

Es ist erstaunlich, dass Politik und Öffentlichkeit überhaupt auf solche Zahlen schauen. Vor Öffnung der Wahllokale morgen kann man nur sagen: Es ist ziemlich unwahrscheinlich, dass die SPD vor der Union landen wird - auch wenn es bei Bundestagswahlen zum Beispiel bei der Union immer wieder Überraschungen nach unten (2002) und nach oben (2013) gegeben hat. Und auf welchen Plätzen genau die AfD, die Linkspartei, die FDP und Grünen landen werden, lässt sich aus statistischer Sicht gar nicht sagen.

Die statistische Unsicherheit ist kein Geheimwissen, sondern die Institute weisen sie aus. So heißt es etwa beim ARD-Deutschlandtrend, dass die Fehlertoleranz bei kleinen Parteien rund 1,4 Prozentpunkte betrage. Der wahre Wert einer Fünf-Prozent-Partei wird also - rein aus Gründen des Zufalls - in der Umfrage zwischen 3,6 und 6,4 Prozent liegen. Ein enorme Spannweite, die keine Aussage zulässt, ob die Fünf-Prozent-Hürde übersprungen wird. Bei größeren Parteien beträgt die Toleranz zwei Prozentpunkte und mehr: also eine Spannweite von mindestens vier Punkten. Alle pro Institut gemessenen Veränderungen in den letzten Wochen sind geringer. Trotzdem wird über das Auf und Ab - meist ist es nur ein Prozentpunkt und damit nicht aussagekräftig - eifrig spekuliert.

Dass Wahlprognosen über die Fehlertoleranz hinaus grundsätzlich ungenau sind, ist nicht erstaunlich. Denn es geht um das Verhalten von Menschen - und deren Verhalten kann von den Prognosen selbst beeinflusst werden. Die Umfrageinstitute sprechen deswegen auch von »Stimmungsbild« oder »Wahlneigung« und auch »Projektion«; was aber nichts daran ändert, dass die Zahlen allgemein als Prognosen interpretiert werden.

Dass diese Prognosen so oft danebenliegen, ist freilich keine Schwäche der Sozialwissenschaften. Bei komplexen Phänomenen liegen auch die Naturwissenschaften oft daneben. Man denke etwa an Wettervorhersagen, die durch den Einsatz von immer mehr Messstationen und Satelliten zwar immer besser wurden, für kleine Gebiete aber immer noch sehr ungenau sind. Entsprechend schwer ist es, Prognosen für kleine Parteien zu erstellen, selbst wenn die Zahl der »Messstationen« - also die Zahl der Befragten - vergrößert wird. Und wenn das Wetter nur ein bisschen windig ist, dann ist die Naturwissenschaft nicht in der Lage, auch nur annähernd zu prognostizieren, wo ein Blatt, das von einem Baum fällt, am Boden landen wird. Obwohl das Fallgesetz genau bekannt ist. Bei Wahlkämpfen handelt es sich aber per definitionem um stürmisches Wetter.

Selbst größere Fallzahlen würden die Wahlprognosen nicht automatisch besser machen. Denn die Prognosen beeinflussen auch die Wahlentscheidung, etwa über die Wahlbeteiligung. Bei den letzten Präsidentschaftswahlen in den USA hat man gesehen, was es bedeutet, wenn Wahlberechtigte plötzlich zur Wahl gehen, die normalerweise nicht wählen.

Sehr große Fallzahlen, die bei Wahlprognosen erreicht werden, indem im Internet nach der Wahlabsicht gefragt wird, sind auch kein Allheilmittel. Dadurch wird der reine Zufallsfehler zwar kleiner, aber es ist unklar, wie repräsentativ die Internetnutzer sind. Klar ist auf jeden Fall: Wer nicht im Internet surft, der fällt ganz aus der Befragung raus. Dadurch sind nach wie vor insbesondere viele Ältere, deren Wahlbeteiligung freilich hoch ist, in Internetstichproben nicht drin. Vielleicht sind künftig via Internet aber noch Prognosen unmittelbar vor dem Wahltag möglich. Dann stellt sich die Frage: Wem nützt das? Welche Last-Minute-Verhaltensänderungen werden dadurch bewirkt? Das weiß man nicht - sicher ist nur, dass Briefwählerinnen und -wähler bei ihrer Entscheidung von anderen Voraussetzungen ausgehen, falls sich die Prognosen kurz vor der Wahl drastisch ändern und Wählerinnen und Wähler zum Beispiel plötzlich eine kleine Partei davor retten wollen, an der Fünf-Prozent-Hürde zu scheitern. Freilich: Wahlprognosen gesetzlich zu verbieten würde nicht weiterhelfen. Sie könnten dann - via Interneterhebung - vom Ausland angeboten werden. Methodisch besser würden sie dadurch mit ziemlicher Sicherheit nicht.

Das Einzige, was wirklich hilft, in einer Demokratie mit Wahlprognosen vernünftig umzugehen, ist bessere statistische Bildung - die hilft zudem nicht nur an Wahltagen, sondern das ganze Jahr über. Damit müsste schon in den Schulen begonnen werden - und zwar nicht im Mathematikunterricht, sondern im Sozial- beziehungsweise Gesellschaftskundeunterricht. Und bis es soweit ist, dass alle das gelernt haben, sollten die Qualitätsmedien noch besser, als dies seit einiger Zeit der Fall ist, über die Beschränktheit der Aussagekraft berichten.

Und es gibt eine ganz einfache Methode, die Prognosen zu verbessern, indem man einfach den Durchschnitt der verschiedenen Prognosen, die ständig publiziert werden, bildet. Damit wird der Zufallsfehler kleiner und institutsspezische Besonderheiten der Erhebung und der Umgewichtung der Rohdaten mitteln sich aus dem Ergebnis hinaus. Wenn die Menschen das gelernt hätten, würden Meldungen keine Aufmerksamkeit mehr erreichen, wenn sie auf Basis von 1000 oder auch 2000 Befragten für eine Partei im Bereich eines Prozentpunktes, also zehn bis 20 Befragten mehr oder weniger, berichten. Und die öffentliche Debatte könnte sich auf politische Inhalte konzentrieren.

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