Inszenierte Welt und inszeniertes Ich

Michael Golz und Torsten Holzapfel in der Galerie Art Cru

  • Klaus Hammer
  • Lesedauer: 4 Min.

Seit seiner Kindheit zeichnet und malt Michael Golz und hat sich trotz seiner Behinderung zu sich selbst durchgekämpft. Vor knapp zehn Jahren ist er aus dem betreuten Wohnen des Hermann-Giese-Hauses in Mühlheim an der Ruhr in eine eigene Wohnung umgezogen, arbeitet aber weiter in der Gärtnerei der Fliedner-Werkstätten. Seit Jahrzehnten beschäftigt er sich schon mit seinem Zyklus »Athosland«, der bereits mehr als 3000 Blätter umfasst: Ein riesiges Konvolut von Zeichnungen, Bildgeschichten, Ordnern und eine überdimensionale Landkarte dieses fiktiven Landes, in dem er die Utopie eines Wunderlandes der realen Welt gegenüberstellt.

Der Ursprung dieses Athoslandes (hat der Name etwas mit dem Heiligen Berg Athos, jener orthodoxen Mönchrepublik in Griechenland, zu tun, von der Golz gehört haben kann?) soll in Bad Boll, Landkreis Göppingen, liegen, wo der Künstler einst eine anthroposophische Schule mit strengen Regeln besuchte. Dazwischen befinden sich sorgfältig gestaltete Landkarten mit Orten, die Namen aus seinem Familien- und Freundeskreis tragen.

Golz besitzt ein eidetisches Gedächtnis, das heißt, er kann sich auf Befehl Form, Farbe und Platz eines jeden Gegenstandes vor Augen rufen und sie wie mit einer Laterna magica auf seine Phantasiewelt projizieren. Die Kraft der Farbe befreit die Gegenstände von ihrer Schwere, die Farbe verliert ihren beschreibenden Charakter. Die Landschaften, Städte, Orte, Behausungen, Burgen auf Bergen zeigen eine farbige, spielzeugartige, lustvolle Welt, und diese romantische Vision der Unschuld taucht in seinen Arbeiten als Relikt einer vergangenen Märchenwelt immer wieder auf.

Die Orte heißen Arnoldstein, Eisenstadt, Birgitsholzen und werden bewohnt von Phantasiewesen - »Ängstlichzähnen«, »Ifichen«, »Brucktieren«. Golz hat seine eigenen Codes, die er niemandem verrät. Er ist der Gärtner, der Zeichner, der Topograf (seine Landkarten werden von ihm mit großer Akribie - mit Vermessungs- und Passpunkten - graphisch erstellt); der Architekt ist der gottähnliche Schöpfer seines Arkadiens.

Sein »Gesamt-Kunstwerk« wirkt veränderlich, vergänglich, fast atmosphärisch, es ist eine sich langsam verändernde Manifestation des Lichts. Der Wunsch, Landschaft als Verkörperung transzendentaler »Erscheinungen« zu sehen, der die Phantasie beflügelt, wird hier veranschaulicht - ein weltliches Kunstwerk, das sich nostalgisch nach dem Metaphysischen sehnt. Ein Spiel von Emotionen und Hoffnungen lösen die Utopie-Landschaften bei Golz aus. Hier soll es keine Aggressionen mehr geben und die Konflikte zwischen »Mein« und »Dein« wären gelöst.

Das ist kein Utopia aus Beton, Glas und Eisen, keine Bilderwelt von Betonlandschaften und mehrstöckigen Straßen, sondern ein romantisches Gespinst, das keine Grenzen kennt, sondern sie immerfort erweitert. Schneeweiß und grauweiß, lila und violett, tiefblau und hellblau, rot, rotbraun, hellrosa, zitronengelb, staubgrün, braun, grau, stählern - die Farben bilden nicht die Wirklichkeit nach, sie sind einem inneren Sinngehalt zugeordnet, der dem Zyklus zugrunde liegt.

Torsten Holzapfel steht seit über 20 Jahren auf der Bühne, hat in mehr als 40 Stücken vom Berliner Theater Thikwa, einem Theater von Menschen mit Behinderung, gespielt. Er war Anstreicher, kam nach der Arbeit zur Probe und gewann hier Selbstbewusstsein und ein neues Körpergefühl. Auch im Zentrum seiner bildkünstlerischen Arbeit steht das inszenierte Selbst. Er transferiert Fotografien und digitale Collagen auf großformatige Leinwände, legt mehrere Schichten übereinander und übermalt einzelne Bereiche mit Acrylfarbe. Der zumeist nackte Körper seiner Selbstdarstellungen wird auf diese Weise mal von seiner abstrakten und doch assoziationsreichen Umgebung isoliert, dann aber auch wieder integriert, so wenn er sich zu »seinem« Berlin bekennen will.

In seiner besessenen - aber vielleicht auch ironischen? - Erforschung des Ich hat sich Holzapfel der Body Art zugewandt, die sich an ihren Grenzen mit den verschiedenen Arten der Performance überschneidet. Seine Selbstverwandlungen sind eine extreme Fortsetzung des expressionistischen Porträts. Gewiss haben ihn auch medizinische Fotos von katatonischen Krampfzuständen mit ihren eingefrorenen Haltungen beeinflusst. Mit dem Betrachten seiner eigenen Entblößung als unbeteiligter Dritter und dem Zurschaustellen seines isolierten Körpers sucht Holzapfel neue Bezüge zu seinem Körper, den er wegen traumatischer Erfahrungen vormals verachtet hat.

Er nimmt bestimmte Posen ein, zeigt sich in Profilansicht mit herangezogenen Beinen und angewinkelten Armen im Bad oder stellt sich wie auf einem polizeilichen Erkennungsfoto dar. Er kniet als Rückenakt vor einem von ihm gestalteten Stadtplan - hier begegnet er sich mit Golz - oder hat sein Ich in das Stadtgebilde montiert. Er erfindet ein »heiles« Berlin ohne den Zweiten Weltkrieg oder stellt unterschiedliche Großstädte zu einem kühnen fiktiven Konstrukt zusammen. Fließende Übergänge, das Verschwimmen der Formen im vibrierenden Licht, die Grenz- und Formauflösung der Elemente verliert der Künstler nie aus den Augen.

»Landkarte. Michael Golz, Torsten Holzapfel«, bis zum 30. September in der Galerie Art Cru, Oranienburger Straße 27 (Kunsthof), Mitte.

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