Mutationsfähigkeit des Lebens

Galerie der Moderne erinnert an den vielseitigen Berliner Künstler-Solitär Heinrich Bethke

  • Klaus Hammer
  • Lesedauer: 4 Min.

2013 ist er verstorben, nach einer schweren Lungenentzündung war er die letzten Jahre an den Rollstuhl mit Sauerstoffmaschine gebunden. Doch hat er bis zuletzt gezeichnet und gemalt - nun in kleineren Formaten, in Postkartengröße -, hat Texte und Gedichte geschrieben. Er war ein Multitalent, er hat nicht nur gezeichnet, gemalt und übermalt, sich in allen grafischen Techniken betätigt, sondern auch gewebt, geschnitzt, Findlinge bearbeitet, Unikat-Druckbücher hergestellt, Möbel gebaut, Holz und Wände bemalt und vieles andere mehr. Nach einem kunstpädagogischen Studium an der Humboldt-Universität und einem kurzen Lehrerdasein wurde er Künstler ohne festes Einkommen, das er durch alle möglichen Brotarbeiten zu sichern suchte, und 1983 - 43-jährig - in den DDR-Künstlerverband aufgenommen. Erst nach der Wende ist er so richtig entdeckt worden, aber Einzelausstellungen erhielt er nur in Berliner kommunalen Galerien. Er hatte zwar einen großen Freundeskreis, wirkte jedoch im Stillen, gehörte keiner Berliner Schule oder irgendeiner anderen Richtung an.

Die Galerie der Moderne widmet Heinrich Bethke jetzt eine Gedenkausstellung, die einen Einblick in seine bis in die 1970er Jahre zurückgehenden Arbeiten und ihr breites Spektrum von Themen und Techniken gibt. Bethkes Kunst erscheint wie eine freie lyrische Mischung aus Seelentiefe, Weltschmerz, Volksmärchen, Erotik, spöttischem Humor, hintergründiger Ironie, Comic und grotesker Absurdität. Als ein »Schalk in der Maske des Melancholikers« (Thomas Martin) ist er bezeichnet worden. Er liebte »le merveilleux«, das Wunderbare, wie es die Surrealisten nannten, die kindliche Freiheit wieder zu erleben, um mit Farbe und Form zu fabulieren und zu fantasieren. Nur ist seine Kunst ganz und gar nicht naiv. Er hat Gesichter mit großer seelischer Ausdruckstiefe gemalt, erschütternde Selbstporträts, Frauen und Männer, Akte, Paare, Vögel, Pferde, rätselhaft skurrile Motive, Phantasmagorien oder auch nur Zeichen, Signale, Kürzel. Mitunter wimmelt die ganze Bildfläche, mag sie noch so klein sein, von Details, und doch ist alles gleichwertig gesehen. Im Nu kann sich in seiner Bilderwelt alles verändern. Es ist die Mutationsfähigkeit des Lebens - alles kann unter dem Druck einer drängenden, fast animalischen Vitalität eine andere Form annehmen. So stellte der Künstler sein Bestiarium menschlicher und tierischer Figuren, metamorpher Fantasiegebilde - auch »Hausgeister« sind darunter - zusammen.

Bethke entdeckte, dass Realismus, wenn er zum Äußersten detailliert wird, das Wirklichkeitsverhältnis umkehrt. Anstatt das Bild als Fläche mit all den dazugehörigen Spannungen darzustellen, probierte er das andere Extrem und behandelte das Bild wie ein vollkommen durchsichtiges Fenster. Auf der einen Seite die unbezähmbare, laichartige Vermehrung des Lebens, auf der anderen die Einsamkeit und Verlorenheit des Menschen zwischen den Dingen. Aber auch das Untröstliche der verlassenen Dinge in der gespenstischen Kahlheit der Räume. Bethke hat einen starken Ausdruck für diese Stimmung der Enttäuschung, des Verzichts, der zerbrochenen Illusionen gefunden. In bleichen trübseligen Tönen malt er in trostlosen Räumen nüchterne Sigel von Dingen, die keine Verbindung mehr miteinander halten. Menschen, so einsam wie die Dinge, die manchmal dann auch wieder Szenen bilden können.

Eine Bilddichtung mit Wirklichkeitszeichen. Die Welt gerät ihm in eine eigentümlich nächtliche Helle, in der sich das Menschliche mit der Durchsichtigkeit von Schatten bewegt. Alles wird unwirklich, paradox, aber scheint auf einer anderen Ebene dann auch wieder eine andere Wirklichkeit, Eindeutigkeit und Festigkeit zu gewinnen. Bethkes Optik ist die des zweiten Gesichtes und erspäht eine zweite Wirklichkeit, in der sich der eigentliche Vorgang des Lebens abspielt und den der Künstler mit durchlebt und spiegelt. So entsteht nicht etwas Punktuelles, sondern ein Zyklisches, keine einmalige Fixierung des Sichtbaren als Landschaft oder Figur, sondern das Bild als Reihe. Bethke hat das Panische und Psychische, das hinter dem Sichtbaren als Vision sich offenbart, in Malerei verwandelt. Ein verlorener Blick, ein unbewachtes Sinkenlassen, ein schmerzlicher Kontur. Seine Bilder sind Mitteilungen aus einem seelischen Zustand, der sich aus jener schmerzhaften, überreizten, äußersten Spannung zwischen Ich und Wirklichkeit herleitet. Die Aufarbeitung dieses so vielgestaltigen, bizarren »Gesamtkunstwerkes« steht noch bevor.

Bis 9. Oktober, Galerie der Moderne, Hindenburgdamm 57c, Lichterfelde

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal