Musterschüler Estland lädt zum digitalen EU-Gipfel

Das kleine Land im Norden gilt als Vorreiter der Digitalisierung / Skandal um gehackte elektronische Ausweise könnte Stimmung trüben

  • Moritz Wichmann
  • Lesedauer: 3 Min.

Zum digitalen Gipfel der EU-Staats- und Regierungschefs treffen im estnischen Tallinn Angela Merkel und Emmanuel Macron erstmals nach den Bundestagswahlen zusammen - ganz traditionell analog. Bei einem Abendessen am Donnerstag dürften auch die umfassenden Reformvorschläge des französischen Präsidenten eine Rolle spielen, die dieser am Dienstag in einer Rede an der Pariser Sorbonne unterbreitet hatte. Damit hat sich der Digitalisierungsgipfel zu einem kleinen EU-Ratsgipfel ausgewachsen. Dennoch steht am Freitag die digitale Zukunft Europa ganz oben auf der Tagesordnung. Vor allem Estland, das aktuell die Ratspräsidentschaft inne hat, dient das Treffen als Werbeveranstaltung. Denn das kleine Land an der Nordostspitze der EU ist selbst Vorreiter bei der Digitalisierung.

Allerdings: Ein Skandal um gehackte elektronische Personalausweise könnte die Stimmung etwas eintrüben. In dem 1,3 Millionen-Einwohner-Staat sind 750 000 Personalausweise von einer möglicherweise schweren Sicherheitslücke betroffen. Ende August hatte ein internationales Team von Sicherheitsforschern die estnische Regierung auf das Problem aufmerksam gemacht. Die Forscher konnten offenbar mit einfachen Mitteln die Verschlüsselung der Ausweise knacken. Die Regierung in Tallinn demonstrierte Gelassenheit: »Das Problem ist schwerwiegend und man sollte es ernst nehmen, aber es ist nicht schwerwiegend genug, um deswegen die Karten einzuziehen«, erklärte der zuständige Minister für Wirtschaft und Informationstechnologie, Urve Palo, von der sozialdemokratischen SDE.

Mit dem E-Government System, das mit dem Personalausweis verbunden ist, können die Esten online die Hausaufgaben und Noten ihrer Kinder überprüfen, die Karte ist Führerschein und Gesundheitskarte zugleich. Nach Angaben der niederländischen Betreiberfirma Gemalto nutzen bereits 30 Prozent der Esten das elektronische Schulsystem, 95 Prozent der Rezepte im Land werden online ausgestellt. Zudem kann die ID-Karte zum Sammeln von Treuepunkten im Supermarkt und zum Online-Banking genutzt werden. Auch die Wahlen hat Estland digitalisiert. Seit 2007 erfolgen sie per Internetabstimmung. Im Oktober sind Lokalwahlen, sie werden trotz der Schwachstellen im Personalausweis stattfinden. Für Estland sind die Probleme mit den Personalausweisen nur eine Irritation auf dem Weg in die digitale Zukunft. Premierminister Ratas sagte, dass die Sicherheitslücke nicht den Digitalisierungskurs des Landes stoppen werde.

Dieser ist auch Flucht vor der Vergangenheit. Immer präsent im kollektiven Gedächtnis der Nation ist die alte Angst vor einem Einmarsch des mächtigen Nachbarn Russland. Die holte das kleine Land 2007 wieder ein. Damals wurde in Tallinn eine sowjetische Statue entfernt, kurz darauf gab es Hackerangriffe, die das Onlinebanking und Dutzende Webseiten lahmlegten, auch die der Regierung. In der Folge wurde die Estonian Information Security Agency gegründet, um alle Informationen über Angriffe auf IT-Systeme des Landes zu bündeln, auch die Landesverteidigung wurde digitalisiert. Seitdem setzt sich Estland in der NATO für ein aggressiveres Vorgehen gegen Hackerangriffe ein, zuletzt im Rahmen der Übung CYBRID 2017.

Die Flucht vor der Vergangenheit bedeutete auch eine Flucht in den Westen. Das Land gilt als Musterschüler von EU und der Welthandelsorganisation WTO. Seit der Unabhängigkeit 1991 haben die mehrheitlich jungen Premierminister, der amtierende Premier Ratas ist 39 Jahre alt, auf eine liberalisierte Marktwirtschaft gesetzt - und wie kein anderes Land auf Digitalwirtschaft.

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