In guter Nachbarschaft

Die Istanbul Biennale ist das wichtigste Kunstereignis in der Türkei. Ihre Themen sind eine Ansage an die politische Wirklichkeit im Land. Von Radek Krolczyk und Hannah Wolf

  • Lesedauer: 14 Min.

Ein Junge wirft sich auf den Boden, greift um sich, wirkt getrieben, will sich mitteilen, gibt unartikulierte Laute von sich, hält den Kontakt zur Kamera. Die Videoarbeit »Wonderland« des türkisch-kurdischen Künstlers Erkan Özgen zeigt einen aus Kobane geflohenen, taubstummen Jungen, der mit schier unerträglicher Intensität von den Kriegsgräueln, die er unter dem IS erlebte, berichtet. Der gestische Bericht von Erschießungen und Enthauptungen ist eindrücklicher, aber auch präziser, als jeder gesprochene es sein könnte.

Die Deutlichkeit, mit der die Arbeit wortlos den nur wenige Kilometer hinter der türkischen Grenze stattfindenden Krieg zeigt, überrascht ebenso wie Diyarbakir als Wohnort des Künstlers. Angesichts der Berichterstattung in Deutschland übersteigt diese Explizität die Erwartung dessen, was gesagt werden darf in Tayyipistan, wie der inhaftierte Journalist Deniz Yücel in seinen Texten Erdogans Autokratie zu nennen pflegte.

Wie es derzeit um die Freiheit von Meinung und Presse in der Türkei steht, spiegeln die Reden rund um die Eröffnung der 15. Istanbul Biennale wieder. »A good neighbour« ist ihr Titel, der zunächst alles und nichts bedeuten kann - privat wie auch global. Ein diplomatischer Kniff? Die Reden jedenfalls sind knapp, und es scheint so, als wollte man sie am liebsten gar nicht halten. Politische Themen kommen darin dennoch immer wieder vor. Sowohl die Direktorin der Istanbuler Kunstschau, Bige Örer, als auch das skandinavische Künstlerduo Elmgreen & Dragset, die Kuratoren der Biennale, sprechen von weltweitem Erstarken autoritärer Regime, wachsendem Nationalismus, Brexit. Der Name Donald Trump fällt oft, der Name Erdogan nie. Entsprechend schnell stellt sich die Frage nach der Zensur: »Es gab keine Zensur, wir konnten alles so machen, wie wir wollten« - so eindeutig, seltsam und unglaubwürdig fiel die Antwort der Kuratoren aus. Warum sprechen sie nicht über die inhaftierten Journalisten, die Schließung von Zeitungen und Fernsehsendern und die zahllosen Entlassungen an den Universitäten und Schulen, an den Gerichten und anderen staatlichen Einrichtungen, wenn es keine Zensur gäbe?

Möglicherweise trifft dies einen der Hauptaspekte der 15. Istanbul Biennale. Zentral ist die Frage, welche Rolle der Kunst heute in der autoritär geführten Türkei zukommt. Was kann, was darf sie noch, was anderen Instanzen, wie etwa der Presse, versagt ist, was diese nicht mehr kann, nicht mehr darf? Die Kuratoren äußern sich zu all diesen Sachverhalten nicht, weil sie wissen, dass es gefährlich ist, für sie selbst, aber auch für die Leitung der Biennale, zu der führende Industrielle des Landes zählen. Sie wissen, dass es in der Türkei selbstverständlich eine restriktive Zensur gibt. In ihren Ausstellungen aber formulieren Elmgreen & Dragset voller Vertrauen in die Kraft der ästhetischen Form eine deutliche, kritische Position zur Erdogan-Türkei. Motivische Verschiebung ist eine sehr klassische künstlerische Strategie, die es zum einen ermöglicht, Sachverhalte in neuem Licht besehen und bewerten zu können, zum anderen aber Instanzen der Zensur zu umgehen. Vieles an dieser Biennale erscheint traditionell und man hat oft den Eindruck, der Rückkehr des Begriffs eines autonomen Kunstwerks beizuwohnen. Die meisten der Arbeiten, der 56 teilnehmenden Künstlerinnen und Künstler, darunter 20 türkische, wirken über ihre ästhetische Form sehr direkt, die Kenntnis ihres Kontextes ist nützlich, aber nicht zwingend. Ein großer Teil der ausgestellten Arbeiten ist grundsätzlich und materialistisch, also direkt körperlich. Elmgreen & Dragset setzen ihre Ausstellung so auf eine sehr altmodische Art angenehm von einem Kunstverständnis wie dem der diesjährigen documenta ab, wo jegliche sinnliche Eigenart von einem übermächtigen kuratorischen Konzept gefressen wurde.

Eine politische Ansage ist die Konzentration auf den Körper natürlich auch. Schließlich zielt die religiöse AKP nicht zuletzt auf ihn. Islamische Werte sollen im privaten Bereich der türkischen Gesellschaft durchgesetzt werden. Seit einigen Jahren werden in der Türkei mehr und mehr religiöse Schulen eröffnet, lokale Alkoholverbote durchgesetzt und selbst Datingshows im Radio verboten. Forderungen des Präsidenten und seiner Minister, Frauen sollten in der Öffentlichkeit nicht lachen oder rauchen und Paare sich nicht küssen, kehren periodisch immer wieder.

Die türkische Gesellschaft jedoch ist gespalten und islamische Moral keinesfalls durchgesetzt. In Istanbul, das man sich in Deutschland inzwischen als eine Mischung aus Knast und Kloster vorstellt, betrinken sich Leute ordnungswidrig in den Gassen und ein offener Straßenstrich floriert. Das alles geschieht im Zentrum, in unmittelbarer Nähe zum beliebten Taksim-Platz. Die einzige Moschee in dieser Gegend ist eine bedauerliche Baracke. Es ist, wie es war, und es ist noch so, wie es in Zukunft nicht mehr sein soll.

Nimmt man sich die gesellschaftliche Wirklichkeit auf eine Weise vor, wie man es mit Kunstwerken tut, konzentriert man sich zunächst auf das, was sichtbar ist. Was unsichtbar ist, wovon man aber weiß, das sind die vielen Menschen, die seit dem missglückten Putschversuch vom 15. Juli des vergangenen Jahres in den Gefängnissen des Landes sitzen. Dieser Umstand hat keine ästhetische Form, es gibt keine Banner, Plakate und kaum Graffiti der Solidarität. Ein jeder Umstand aber findet doch früher oder später eine Gestalt. Neben der starken Präsenz von Militär und Polizei sowie Frauen in schwarzen Niqabs in den Straßen ist es eine subtile, wie die geschwärzten Namen der in den Monaten seit dem Putschversuch verbotenen Zeitungen an der Werbetafel eines Kiosks.

Die Kunstszene ist von den Restriktionen der Regierung bislang weitestgehend verschont geblieben. Diesen wahrscheinlich nur temporären Zustand nutzt das Kuratorenduo: Wo sie nichts sagen, zeigen sie etwas, überrumpeln gewissermaßen die Offiziellen und ihr Publikum und stellen beide vor vollendete Tatsachen. Die ästhetischen Chiffren sind deutlich, sie sind politisch, wenn auch nicht realpolitisch. Sie agieren auf diese Weise, ähnlich wie Politiker es tun, bedienen sich der diplomatischen Lüge, geben vor, sich bloß für individuelle Geschichten zu interessieren, vom nachbarschaftlichen Nebeneinander der Menschen auf diesem Planeten zu erzählen. Eine jede dieser individuellen Geschichten aber, die ihre Künstlerinnen und Künstler erzählen, folgt einer allgemeineren Systematik. Der Junge aus Özgens Film ist nur eines von tausenden Kindern, die im syrischen Krieg ihre Eltern verloren haben und infolge ihrer Erlebnisse traumatisiert sind. Die Türkei liegt nicht nur an der Grenze zur Heimatregion des Jungen, sie verfolgt dort militärisch eigene Ziele und ist für sein Schicksal mitverantwortlich. Solcherlei deutliche und universell lesbare ästhetische Chiffren sind in vielen Arbeiten dieser Biennale zu finden.

2001 wurden in Ägypten 50 Männer auf einer Schwulenparty gestellt, verhaftet, gefoltert und vor Gericht gezerrt. Das Bild eines sich vor der Anklagebank notdürftig mit einem Taschentuch verhüllenden, weinenden Mannes ging durch die Medien und wurde Teil des kollektiven Gedächtnisses der ägyptischen Queer-Community. Mahmoud Khaled, geboren 1982 in Alexandria, greift dieses Bild auf und fiktionalisiert es. In Khaleds Erzählung floh der Unbekannte aus Ägypten, zog nach Istanbul, führte dort ein zurückgezogenes Leben, gestaltete ein Haus voller Details, schwuler Literatur und Kunst und fertigte selbst Werke an, bevor er aus ungeklärten Gründen die Stadt mit unbekanntem Ziel wieder verließ. Dieses Haus wird als »Museum for the unknown crying Man« behauptet, beheimatet in einem modernistischen Wohnhaus mit wechselhafter Geschichte, das die Architektin Gülfem Köseoğlu seit 2008 als Kunstraum betreibt. Ein Audioguide, elementarer Teil der Arbeit, erzählt die Geschichten der einzelnen Exponate und stellt Bezüge sowohl zur ägyptischen wie auch westlichen schwulen Kultur her. In einer edlen, in Mahagoniholz gefassten Glasvitrine, wie sie in arabischen Häusern üblich sein soll, werden hier keine Familienbilder oder Porzellan ausgestellt, sondern Fotos eines als Cruisingarea bekannten Parks. Keine Körper, kein harter Sex darauf, stattdessen benutze Kondome als Spuren. Das »Proposal for a Museum for the unknown crying Man« ist die wohl poetischste Arbeit dieser Biennale. Sie führt durch den Schmerz und die Einsamkeit der gefährdeten Sexualität, über die Sublimierung von Lust durch Kunst, bis hinab in den Keller, den Darkroom des Weinenden. Zu hoffen bleibt, dass der Unbekannte nun in einem Haus mit offenen Vorhängen leben kann. Den ägyptischen Künstler Khaled jedenfalls zog es ins liberale Norwegen.

Der »Mustafa Paşa Hamam« ist der einzige der insgesamt sechs Spielorte der Biennale, der nicht im säkularen, europäischen Teil der Stadt, Beyoğlu, liegt, sondern auf der anderen Seite des Goldenen Horns, im konservativen, religiösen Altstadtviertel Fathi. Der Eingang ist schmal, in der Straße nach hinten versetzt, und trotz des großen Plakats leicht zu übersehen, die Stufen führen hinab. Die umliegenden Straßen sind eng, von Männern bevölkert, Frauen tragen Kopftuch oder Niqab, sitzen nicht Tee trinkend herum, sondern sind geschäftig. Die Biennale-Aufsicht benennt die Nachbarschaft ohne zu überlegen als »Ghetto«. Im Hauptraum des Kuppelbaus aus dem 15. Jahrhundert entwickelte die italienische Künstlerin Monica Bonvicini für die Biennale ihre überlebensgroße Installation. »GUILT« - dieses Wort ließ sie aus verspiegelten Platten montieren und in monumentaler Größe aufrichten. Nicht nur man selbst, auch der Raum, das Zentrum des langsam zerbröckelnden Männerbades, spiegelt sich in der Skulptur. Die Skulptur, die Betrachterin oder der Betrachter und der Raum voller versickertem Männerschweiß befinden sich in einem Dreieck von Schuld. Schräg gegenüber, außerhalb der Spiegelachse, steht frei im Raum die zweite Arbeit: ein riesiges Bild zusammengesetzt aus winzigen Schnipseln nackter weiblicher Körperteile, »Weave this Way«. Die Fleischlandschaft überragt die Schuld noch in ihrer Größe. Im Nebenraum des Hamams legen zwei weitere Arbeiten der Künstlerin den Körper beiseite, nicht aber den Sex. Mittig unter einer kleineren Kuppel wurde ein etwa zwei Meter hoher Quader, »Belt Out«, gesetzt, er erinnert nicht zufällig an die Kabaa, den Stein von Mekka. Die Schwärze des Objekts entsteht hier durch präzise aneinandergereihte Männergürtel, die den Quader ummanteln, drei in den Badebuchten hängende Wandteppiche aus Neonröhren und Draht, »Bent and Winded«, setzten den blasphemischen BDSM-Klotz ins Licht. Die konservative, religiöse Nachbarschaft hat wohl schon Interesse angekündigt. »Is a good neighbour someone you don’t fear?«, fragt die Biennale auf einem ihrer Plakate. Sie fürchtet sich selber offenbar nicht, es könnte aber sein, dass sie es sollte.

Staatliche Kunstförderung hat in der Türkei keine Tradition. Kunstmuseen sind meist privat, viele gründen auf dem zivilgesellschaftlichen Engagement großer Firmen. Der Hauptsponsor der Biennale ist seit 2007 die Koç Holding; die Unterstützung des Events hat sie bis 2026 garantiert. Seine geschätzten 40 Milliarden an Jahresumsatz fährt Koç, der größte Konzern der Türkei, unter anderem in der Bau-, Finanz- und Tourismusbranche ein. Koç steht als Familienunternehmen in der Tradition einer westlich orientierten Türkei und damit heute in indirekter Gegnerschaft zur konservativ-religiösen Regierung. 2013 gewährte das Unternehmen den Gezi-Demonstranten in ihrem an den Park angrenzenden Diwan-Hotel Schutz vor der anrückenden Polizei. Anschließend distanzierte es sich jedoch wieder von den Protesten. In den 80er Jahren forderte der damalige Firmenchef Vehbi Koç vom siegreichen Putschgeneral Kenan Evren die Zerschlagung der Gewerkschaften - sie schädigten den Profit. Im Vorfeld der Biennale 2013 gab es aufgrund des Engagements des Unternehmens in der Rüstungsindustrie Proteste. Dies hatten Aktivisten während der Pressekonferenz öffentlich gemacht. Die Kuratoren spielen seit Generationen die politischen Schweinereien des Sponsors herunter. So loben auch Elmgreen & Dragset ihren Sponsor für seine Unterstützung und verweisen auf die moralischen Schäden anderer Kunstförderer wie der Deutschen Bank. 2013 mag es noch verhandelbar gewesen sein, in der jetzigen Situation ist es ein Bündnis ums Verderben. Es ist schon schlimm, wenn der einzige Freund, der einem bleibt, ein großer Feind ist.

Teil der Biennale ist das ebenfalls von Mitgliedern der Koç-Familie gegründete Pera Museum. Gewöhnlich zeigt es Osmanenkitsch aus der Hand europäischer Maler des 18. und 19. Jahrhunderts. Anlässlich der Biennale lassen die Kuratoren Monica Bonvicini, kürzlich als Professorin an die Universität der Künste Berlin berufen, auf die Altmeisterin der feministischen Kunst Louise Bourgeois reagieren. Bourgeois »Femme Maison« von 1990 ist die Zeichnung einer Frau: nackter Unterleib, statt eines Torsos hier aber ein Haus, eine Puppenstube, die Arme nutzlos angehängt, der Kopf fehlt völlig. Auf der anderen Seite des Raums Bonvicinis Videoinstallation, der »Hausfrauen Swindel« von 1997: Zwei Stellwände bilden eine Ecke, auf dem Boden ein Monitor, darin das Video einer nackten Frau, die ihren Kopf, dem das Modell eines Hauses übergestülpt wurde, immer wieder gegen weiße Wände schlägt. Das Häusliche als Horror, als Zurichtungsfabrik, als Gefängnis. Dass aber eben auch die Anderen, das Außen, die Hölle sein können, erzählt uns Berlinde de Bruyckeres Installation »Spreken« (Sprechen) von 1999. Zwei Körper, vermutlich Frauen, sichtbar nur ihre nackten Beine, stehen unter mehreren floral gemusterten Wolldecken ineinander verschränkt und scheinen Geheimnisse auszutauschen.

Auf der Pressekonferenz wurden die Kuratoren Elmgreen & Dragset gefragt, warum sie gerade bei den wichtigen feministischen Fragen auf so alte, etablierte Künstlerinnen zurückgegriffen haben. Sie antworteten, dass sie zeigen wollten, dass deren Kämpfe auch heute noch, vielleicht auch gerade heute wieder brandaktuell sind, mitnichten, weil es keine starken, jungen feministischen Positionen gäbe. Wie um das zu beweisen, stammt die letzte Arbeit in diesem Raum von der 1983 geborenen Aude Pariset, »Toddler Promession«. In einem Babybett liegt unter Glas eine Matratze aus Styropor. Von Weitem erscheint diese wie aus Brokat. Tritt man näher, offenbart sich das Muster als ein Gewirr aus Mehlwürmern. Tod und Verderben. »Promession« heißt ein neuartiges Bestattungsverfahren, bei dem die Leiche erst gefriergetrocknet, dann granuliert und anschließend den Würmern zum Fraß vorgeworfen wird. Der Zersetzungsprozess wird so beschleunigt. Nach Ablauf der Biennale wird von der Matratze nur noch Mehlwurmkot übriggeblieben sein. Einerseits ein Kommentar auf den menschlichen Raubbau an der Natur, andererseits aber eben auch, gerade im Kontext der Arbeiten in Sichtweite, eine Positionierung innerhalb des feministischen Diskurses. Das Babybett als Sarg der Frau. Das Kind als ewiges Zentrum der mütterlichen Gedanken, sowohl lebend als auch tot. Hier wird nicht das identitäre Wünsch-dir-was gespielt, hier wird der weibliche Körper materialistisch an seine Bedingungen gekoppelt gedacht, gerade weil er im gesamten Raum als Körper kaum in Erscheinung tritt.

Inmitten einer seit Jahren andauernden Großbaustelle am Ufer des Bosporus liegt das Istanbul Modern. 2008 wurde es aus Mitteln verschiedener türkischer Banken als erstes Museum für zeitgenössische Kunst in Istanbul eröffnet. Die Biennale bestand zu diesem Zeitpunkt bereits seit mehr als zehn Jahren. Heute ist es ihr zentraler Spielort. Um ihn zu erreichen, muss man an zahlreichen Bauskeletten, Wellblechzäunen und einem bewachten, staubigen Parkplatz vorbei. Die Veränderungen der Stadt sind bereits in seinem Umfeld sichtbar, denn seit Jahren wird die Ufergegend auf mehreren Kilometern umgegraben. Die angrenzenden Viertel werden ebenfalls tiefgreifenden Veränderungen unterworfen; zahllose Menschen wurden zum Verlassen ihrer Wohnungen gezwungen, proletarische und kleinkriminelle Nachbarschaften zerschlagen und Häuser abgerissen oder modernisiert. Während der durch die Gezi-Proteste stark politisierten Biennale 2013 sah man im Istanbul Modern als direkten Kommentar dazu eine Videoarbeit von Alice Creischer und Andreas Siekmann mit dem Titel »Res nullius«, in der vier Personen mit Raubtiermasken um die Ruinen des Viertels Sulukule schlichen, das damals abgerissen wurde.

Nun sind der Kampf um den öffentlichen Raum, der Kampf um Bauen und Wohnen beherrschende Themen in der Ausstellung des Istanbul Modern. Gleich zu Beginn gerät man in einen mehrere Meter langen, schmalen Gang, der zu den Seiten hin von einer sandsteinernen Mauer begrenzt wird. Darauf finden sich die Reste farbiger Wandbilder - ein wenig Höhlenmalerei, ein wenig lateinamerikanische Protestkultur. Menschen immerhin lassen sich darauf erkennen, viele mit erhobenem Arm. Die fehlenden Teile der beiden Gemälde liegen als bunter Schutt am Boden. Die Bevölkerung in Istanbul aber weiß, dass es zu den Aufgaben der türkischen Polizei gehört, die Parolen, die von den Protesten auf der Straße an den Mauern übrig bleiben, zu überstreichen. Auf diese Weise wird nicht nur eine öffentlich vorgetragene politische Äußerung unterbunden, sondern ebenso die Erinnerung an den Protest. Die Arbeit mit dem Titel »Crowd Fade« stammt von der 1974 in Marokko geborenen Künstlerin Latifa Echakhch und wurde speziell für die Biennale angefertigt. Man erkennt im Werk der heute in der Schweiz lebenden Echakhch umstandslos einen Akt der Gewalt gegen ein Bild und den Versuch im Kunstwerk, es doch zu bewahren, auch wenn man nicht sieht, was hier vor sich gegangen ist.

Die Biennale soll ein möglichst großes Publikum erreichen, der Eintritt zu den Ausstellungen und Veranstaltungen ist kostenlos. Gleichzeitig ist ihre Präsenz im Zentrum der Stadt, etwa an Plakatwänden, immens. Gezeigt werden Fotografien des Schweizer Künstlers Lukas Wassmann. Diese hängen darüber hinaus in zahlreichen Großstädten weltweit. Zu sehen sind darauf Begegnungen, die Gefühle von Spannung, Angst oder Hoffnung hervorrufen. Was ist zu erwarten, wenn jemand im dichten Nebel einer schwarzen Limousine begegnet? Abgesichert sind die Spielstätten durch Sicherheitsschleusen, Metalldetektoren und Wachpersonal - so wie heute die meisten Orte in der Türkei, an denen Menschen zusammenkommen. Sie schützen die als westlich verschriene Kunst möglicherweise vor Terroranschlägen, wer aber schützt sie in Zukunft vor dem Zugriff des türkischen Staates?

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