Lasst euch nicht verführen

Philharmonie: Ton Koopman dirigierte Bachs h-moll-Messe

  • Stefan Amzoll
  • Lesedauer: 5 Min.

Die Chöre und deren Vokalpolyphonie, genährt aus »musica antiqua« und »musica nova«, stehen obenan, während bei den Arien und Duetten Sparsamkeit waltet. Bassist Klaus Mertens hat während der zwei Stunden Musik nur zwei Einsätze. Allein singt Sopranistin Yetzabel Arias Fernandez nur einmal in »Laudamus te«, gleichfalls Tenor Tilman Lichdi in »Benediktus«. Genauso selten die Duette. Außer dem Bass singen die drei höheren Stimmen mit - und Note wider Note gegeneinander.

Altistin Wiebke Lehmkuhl hat ihrerseits zwei Soloeinsätze, der gewichtigste im »Agnus dei«. Bachs h-moll-Messe ist unangefochten chordominiert. Große Aufgaben fallen entsprechend dem RIAS-Chor zu, der in voller Stärke, etwa vierzig Damen und Herren, antrat, begleitet von den auf historische Instrumente verzichtenden Philharmonikern und einer Dame am Orgelpositiv, die im Programmbuch nicht genannt wird, aber fast die ganze Zeit über - alle Achtung! - die Generalbass-Partien umsetzte.

Beim »Agnus Dei« sei etwas verweilt. Wiebke Lehmkuhl gab die Arie espressivo in geradezu erschütternder Weise, obwohl die Melodik ihren Ursprung in einer Jahre zuvor komponierten Hochzeitsmusik hat. Bach bildete sie um und verbesserte sie. So tat er es, wenn nötig, auf das Ganze hin. Allerwenigstes ist hinzu komponiert, das meiste kompiliert worden aus dem Fundus der bestehenden Musik Bachs. Wer in dieser Art »Selbstausbeutung« eine Schmälerung jener einzigartigen geschichtlichen Leistung, die h-moll-Messe heißt, sieht, dem ist nicht zu helfen.

Es gibt ein Gemälde über »Agnus dei«. Gemalt hat es Francisco de Zurbarán um die Mitte des 17. Jahrhunderts. Bach war noch nicht auf der Welt. Das Lamm liegt auf einer Tischplatte mit auf der Kante überkreuz baumelnden Beinen. Die Beine sind gefesselt. »Lamm Gottes, du nimmst hinweg die Sünden der Welt. Erbarme dich unser«, heißt es übersetzt in der entsprechenden katholischen Mess-Sequenz. Ein gefesseltes Lamm, es soll nehmen die eigenen und alle umfassenden Sünden? Gottes Opfer, daniederliegend, die Augen halb geöffnet, unfrei, zur Heilung der Menschheit? Will jenes Symbol der Fesselung des Francisco den religiösen Gehalt der »Lamm Gottes«-Sequenz konterkarieren?

Glaubt auch dieser Kritik nicht, hätte Brecht gesagt. Die letzte Strophe eines seiner antichristlichen Gedichte lautet: »Lasst euch nicht verführen/ Zu Fron und Ausgezehr!/ Was kann euch noch rühren?/ Ihr sterbt mit allen Tieren/ und es kommt nichts nachher.« Und Heiner Müller hätte gewarnt: Vorsicht! Bachs redendes Prinzip ist gewaltsam, es bedrängt, überredet.

Wie auch immer. Das »Agnus dei«, es steht im Werk an vorletzter Stelle, ist und bleibt »überirdische« Musik, ja die ganze Messe. Ihrem Wesen mit materialistischen Überzeugungen beikommen zu wollen, ist vergebliche Liebesmüh. In zähem Ringen, der Nachwelt Großes zu liefern, hat diese Musik Gestalt angenommen.

Zu Ohren ihres Schöpfers kam sie wohl nicht mehr, aber nachdem sie als »größtes Kunstwerk aller Zeiten und Völker« eingenommen und sich von der Allgewalt und Sicherheit der Kathedralen gelöst hatte, gab es kein Halten mehr. Die Messe wurde aufgeführt, erst selten, dann über die vergangenen zwei Jahrhunderte weg immer öfter, in Deutschland vor, zum oder nach dem Reformationstag, dem widersprach keineswegs der katholische Gehalt des Werks, zu heiligen Feiertagen und weltlichen Anlässen in allen Großstädten der Welt. Längst ist also das monumentale Gebilde verweltlicht und aus dem globalen Konzertgeschehen nicht mehr wegzudenken.

Jetzt kam es an drei Abenden in der Philharmonie vor ausverkauftem Hause mit den genannten Ausführenden. Noch unerwähnt der Holländer Ton Koopman, geboren 1944, jene immer noch lebendigste Gestalt der Bachinterpretation, er dirigierte. Koopman kommt vom Jazz, er blies und strich fast alle Instrumente, schlug das Schlagzeug, traktierte Tasteninstrumente. Der Mann ist Rhythmiker durch und durch, was seiner modernen Bach-Interpretation förderlich ist. Temposcharfe figurierte Choräle in Bach-Kantaten unter ihm klingen wie Swingmusic und bleiben doch Bach. Derlei wirkt äußerst anziehend.

Die Nr. 23 »Osanna in exelsis« und andere Stücke der h-moll-Messe kamen im Großen Saal der Hauses ähnlich daher. In Einklang mit dem Dirigieren befindet sich seine Arbeit als Cembalist und Organist. In der Philharmonie stand der kleine Mann nicht am Pult, wohl aber vor einem extra Orgelpositiv, das er bei der »Benedictus«-Arie für Tenor mit Flöte und Cello selbst betätigte. Das komplette Kantaten-Werk Bachs hat der universelle Geist die 90er Jahre über bei Erato auf CD gebracht, dazu die Passionen, Oratorien und Messen. Gleichfalls eingespielt von ihm Bachs Werke für Cembalo und Orgel. Keiner seiner Kollegen hat diese Breite aufzuweisen. Freilich schaut Koopman auch über Bach hinaus und dirigiert neben Händel. Telemann, Buxtehude etwa Sinfonien von Haydn und Mozart. Wer Besseres also hätte vor dem Ensemble stehen können?

Die Aufführung der knapp zweistündigen h-moll-Messe, anders will es nicht aus dem Munde, war hinreißend. Selten, das Werk unter diesem Dirigenten einmal live zu erleben, umso größer die Freude darüber. Neben jenen ganze Klangschichten der Musikgeschichte heraufrufenden Kyrie-Takten des Anfangs, ließ auch das nachfolgende Duett der beiden Damen »Kyrie eleison« die Sinne erbeben. Jenes tiefe Empfinden des Chorsatzes »Qui tolles peccata mundi« setzte das Ensemble hochempfindlich in den Saal.

Der RIAS-Chor erwies sich insgesamt als ein Geschenk des Himmels. Rasch, energisch, festlich kam in wahnwitzigen Koloraturen und hochfliegenden Trompeten der Satz »Gloria in excelsis Deo«. Chöre wechselten attacca. Fallend, steigend, seufzend kam »Et incarnatus est«, übergangslos danach »Crucifixus« und »Et resurrexit«. So spannend gelingt diese Chor-Triologie nur bei Koopman und diesem verrückten Chor.

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