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- »Transamazonia« im Kino
Die Aspirin-Lady
In »Transamazonia« spielt Helena Zengel eine Überlebende eines Flugzeugabsturzes, die im brasilianischen Regenwald zur Wunderheilerin wird
Die Geschichte von Juliane Koepcke, die am 24. Dezember 1971 als 17-jährige einen Flugzeugabsturz im peruanischen Regenwald überlebte und sich zehn Tage durch den Dschungel schleppte, bis sie gerettet wurde, hat viele Menschen fasziniert. Werner Herzog, der sich damals vergeblich um Plätze für den gleichen Unglücksflug bemühte, ließ dieses unglaubliche Ereignis verständlicherweise auch nicht mehr los. Während Juliane im Urwald um ihr Überleben kämpfte, nahm er mit Klaus Kinski ein paar Flussläufe weiter seinen Abenteuerfilm »Aguirre, der Zorn Gottes« auf. 1998 drehte er schließlich den sehenswerten Dokumentarfilm »Wings of Hope«, den man sich auf Youtube anschauen kann. Dafür kehrte er mit der deutsch-peruanischen Biologin Koepcke an den Absturzort zurück.
Auch die in Südafrika geborene und in Berlin lebende Regisseurin Pia Marais hat diese junge Frau, die aus drei Kilometern Höhe nahezu unverletzt überlebte, zu ihrem Film »Transamazonia« inspiriert. Sie strickt aus dem unglaublichen Ereignis aber eine ganz andere Geschichte: Ihre Juliane heißt Rebecca und wird von Helena Zengel gespielt, die 2019 als Zehnjährige mit ihrer Darstellung eines traumatisierten Mädchens, das durch alle Raster der Kinder- und Jugendhilfe fällt, für Furore sorgte. Nach dem internationalen Erfolg spielte sie mit Tom Hanks in dem US-amerikanischen Western »Neues aus der Welt« und ist zurzeit auch in dem Fantasy-Film »Die Legende von Ochi« zu sehen.
In »Transamazonia« nun rettet ein Ureinwohner des fiktiven Stammes der Iruaté das mit Schlamm und Blut bedeckte Mädchen und trägt die Sechsjährige tagelang durch den brasilianischen Dschungel. Später wird die verstörte Rebecca aus dem Krankenhaus von ihrem Vater Lawrence (Jeremy Xido), einem christlich-evangelikalen Missionar, abgeholt.
Neun Jahre später vermarktet Lawrence Rebecca – nun von Zengel verkörpert – seiner Gemeinde als Wunderheilerin. Die während der Gottesdienste aufgepeitschten Gläubigen nennen sie »Aspirin-Lady«, stoisch und schweigsam bemüht sich der blonde Engel, Wunder zu bewirken, bewegt tatsächlich sogar eine Frau im Rollstuhl dazu, einfach aufzustehen. In solchen Momenten wirkt sie wie die traumatisierte, junge Frau aus dem Horrorklassiker »Carrie – des Satans jüngste Tochter«. Doch teuflisch-telekinetische Fähigkeiten entwickelt sie bis zum Schluss nicht. Im Gegenteil, Marais lässt bewusst offen, ob Rebecca eine außergewöhnliche Begabung hat, und auch sie selbst scheint sich nicht ganz sicher zu sein.
Atmosphärisch weiß der Film zu überzeugen, Mathieu de Montgrands hypnotische Kameraführung zieht den Zuschauer tief in den brasilianischen Dschungel, der übertrieben bedrohlich wirkende Score katapultiert einen allerdings so manches Mal in den schnöden Kinositz zurück.
Leider kann das Drehbuch von Marais, Willem Droste und Martin Rosefeldt mit den Bildern nicht mithalten. Je weiter der Film voranschreitet, desto mehr fragt man sich, welche Geschichte eigentlich erzählt werden soll. Die einer weiblichen Selbstfindung unter ungewöhnlichen Umständen? Eine schwierige Tochter-Vater-Beziehung, die zudem noch auf einer ungeheuerlichen Lüge beruht? Soll es um unselige Missionsarbeit gehen, die selbst in entlegenste Gebiete vordringt, oder um den umweltzerstörerischen Kapitalismus? Marais verirrt sich zunehmend im Dschungel ihrer Ansprüche.
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In der Nähe ihrer Missionsstation holzen nämlich rücksichtslose Arbeiter den Regenwald ab und bringen damit die Lebensgrundlage in Gefahr. Rebecca schlägt sich auf die Seite ihrer indigenen Teenagerfreunde, die sie einmal mit der Frage provozieren, ob sie eigentlich immer tun würde, was ihr Vater sagt. Der jedoch bittet sein Wunderkind Rebecca inständig darum, die Frau des Holzfirmabesitzers zu heilen, die in eine Art Koma gefallen ist. Ihr Mann verspricht, dass er seine Holzarbeiter aus dem Gebiet abziehen würde, sollte es ihr gelingen. Rebecca scheint zwischen allen Fronten festzustecken, während der Konflikt der Indigenen mit den Holzfällern eskaliert. Doch dem nicht genug ist sie auch noch eifersüchtig auf eine Krankenschwester, die kurzzeitig bei ihnen wohnt. Zudem sät diese Zweifel an Rebeccas wahrer Herkunft.
In letzter Minute versucht Marais noch halbherzig, all diese Handlungsfäden zusammenzuführen, aber es gelingt ihr nicht und es interessiert auch nicht so besonders, da bis dahin weder das Innenleben von Rebecca noch das ihres Vaters noch das der Ureinwohner sonderlich ausgeleuchtet wurde. Dagegen kann auch Helene Zengel nicht anspielen, die sich wacker durch den Plotdschungel schlägt.
Auch wenn man erahnt, dass Marais den »White Savior«-Komplex kritisch hinterfragen wollte – besonders deutlich in einer Szene, in der der Holzfällerboss Lawrence erklärt, ihm sei es um das Holz und das Geld der Ureinwohner gegangen, Lawrence aber offensichtlich um ihre Seelen –, scheitert das unentschlossene Melodram auch an diesem Anspruch. Der Versuch einer kritischen Auseinandersetzung mit dieser Thematik verliert sich in erzählerischer Unsicherheit.
»Transamazonia«: Deutschland, Brasilien, Frankreich, Schweiz, Taiwan, 2024. Regie: Pia Marais. Buch: Pia Marais, Willem Droste, Martin Rosefeldt. Mit: Helena Zengel, Jeremy Xido, Sérgio Sartorio. 115 Min. Kinostart: 15. Mai.
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