Sie hatten ja nie etwas gesehen

Ein Theaterstück erinnert an den tausendfachen NS-Patientenmord in der Stadt Brandenburg

  • Slava Wagner
  • Lesedauer: 4 Min.

Die lokale Euthanasiegeschichte in der Stadt Brandenburg/Havel als Märchen im Theater aufführen - etwas ungewöhnlich, oder? Das dachte anfangs auch Medizinhistorikerin Astrid Ley über Daniela Kleins »Brandenburger Märchen« im Vorwort des Bandes. Die Idee schien ihr »für das bedrückende Thema nur wenig zu passen.« Doch sie fügt hinzu: »Diese Meinung habe ich mittlerweile revidiert.«

Tatsächlich versetzen die Märchen den Leser in die Perspektive der Stadtbewohner, die aus Angst schwie᠆gen, und meistens nur ahnen konnten, was sich konkret abspielt im »Alten Zuchthaus« am Nicolaiplatz. Hier wurden im Jahr 1940 mehr als 9000 Patienten im Rahmen des sogenannten Euthanasieprogramms vom NS-Regime vergast und anschließend in Krematorien verbrannt. In der Nachbarschaft rankten sich derweil düstere Gerüchte, Ahnungen und Mythen. Das Anstaltsgelände war vermauert und abgeriegelt, der Zutritt verboten, und das Gros der Belegschaft unterlag einer Ausgangssperre. Tagsüber wirkte es wie ausgestorben, und nur nachts erhob sich diese dicke, schwarze Rauchsäule über dem Schornstein des Krematoriums auf der anderen Seite des Marienbergs.

Die Theologin Daniela Klein und weitere Mitwirkende vom Kulturverein Päwesin (Potsdam-Mittelmark) befragten in zweijähriger Recherche in und um Brandenburg/Havel mehr als 150 Zeitzeugen, Nachfahren und Wissenschaftler zur Euthanasie-Mordaktion. Basierend darauf schrieb sie die Märchen, sechs von ihnen hat der Regisseur Reimund Groß inszeniert. Zusammen ergeben sie eine Chronologie des Geschehens. So erfährt man, wie das Krematorium im Sommer 1940 aus der Innenstadt in die Siedlung Paterdamm nahe der Stadt verlegt wurde, um weniger Aufsehen wegen des Geruchs nach verbranntem Fleisch zu erregen. Denn, »was die Leute auf dem Dorf dachten, war nicht weiter wichtig«, meint der fiktive Ratsherr im Märchen »Holzbeinchen«. Und doch klettert nachts ein junger Mann über den Zaun, und »sah in die Hölle hinab«. Vor sich ein »riesiger Haufen nackter Menschenleichen« und grobe Männer, die »wie die Teufel um das Feuer herumstanden«. Später wagte er nicht, es jemandem zu sagen, »und wem er es doch zu erzählen versuchte, der hielt den Jungen für verrückt«, heißt es im Märchenheft.

Diesen jungen Mann gab es wirklich, wie Daniela Klein versichert. Und ihm wurde nicht geglaubt. Es herrschten Wegschaumentalität und Furcht. Auch heute gibt es eine »Angst, sich selbst mit dieser Geschichte in Verbindung zu bringen«, erklärt Klein. Deswegen sei es schwer gewesen, die Erfahrungen der Zeitzeugen zu erfragen, da immer noch ein großes Schamgefühl vorherrsche. »Auch deswegen habe ich die Märchenform gewählt, weil keiner der befragten Zeugen namentlich genannt werden wollte. Wenn ich einfach so ins Altersheim gegangen wäre, und gefragt hätte: «Was wisst ihr über die Euthanasiemorde am Nicolaiplatz?» - dann hätte wahrscheinlich überhaupt niemand mit mir gesprochen«, erläutert sie mit dem Verweis auf die alten Adressbücher, anhand derer sie die Zeugen und Nachfahren ausfindig machte, um das Gesamtbild der Ereignisse zu rekonstruieren. »Ich war mir einfach sicher, dass es diese Geschichten noch gibt, und wollte sie herausfinden, bevor sie verschwinden«. sagt sie.

Motivation für die lange Recherche lieferte ihr eine unscheinbare Postkarte, die das Café Rosenhag im Jahr 1940 zeigt. Damals war das Lokal am Nicolaiplatz ein beliebter Treffpunkt für Offiziere. Vom Dachgarten aus ließ sich über die Mauer des »Alten Zuchthauses« hinwegsehen. »Also musste der Wissensstand da sein, wie diese Dinge organisiert wurden. Der Nicolaiplatz war ein sehr belebter Ort und Verkehrsknotenpunkt. Mindestens 200 Fenster richteten sich auf die alte Strafanstalt« erläutert Klein. So suchte sie diese Zeugen.

Die »dokumentarische Theaterproduktion« des Kulturvereins Päwesin wird unter anderem von der Brandenburgischen Landeszentrale für politische Bildung gefördert. Die Berlin-Premiere findet in einer früheren Schaltzentrale des Massenmords statt: In der Hörsaalruine des Berliner Medizinhistorischen Museums (BMM). Der Ort erinnert an die Verantwortung der Medizin im Nationalsozialismus, als Teile der Ärzteschaft und des Pflegepersonals auch der Charité in verbrecherischer Weise die Menschenwürde außer Kraft setzten.

Aufführung »Brandenburger Märchen«:

Brandenburg/Havel: Brandenburger Theater, Grabenstr. 14, 6.11. /19.30 Uhr, 7.11./18 Uhr, 8.11./ 19.30 Uhr

Berlin: Hörsaalruine des Medizinhistorischen Museums der Charité, Charitéplatz 1, 11.11./20 Uhr, 12.11./17.30 Uhr

Potsdam: Spartacus, Friedrich-Engels-Str. 22, 19.11./18.30 Uhr, 20.11./18.30 Uhr, 22.11./18.30 Uhr

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