Im Land der Pflaumentoffel

Ein sächsischer Glücksbringer erinnert an das Schicksal der Schornsteinfegerjungen

  • Steffi Schweizer, Freital
  • Lesedauer: 3 Min.

Manchmal klingeln Fremde mit einem Päckchen an seiner Tür, manchmal schenkt ihm die Familie ein neu entdecktes Exemplar des Pflaumentoffels. Roland Hanusch freut sich über jedes neue schwarze Kerlchen. Sie bevölkern nahezu alle Räume seiner Wohnung im sächsischen Freital. Und sie sind auch nicht alle nur aus Dörrobst, sondern auch aus Perlen, Papier und Klöppelspitze, sie zieren Plakate und Flaschenetiketten, turnen auf Leitern und winken vom obersten Bord eines Regals herunter.

Wie viele Exemplare er insgesamt besitzt, weiß der 77-Jährige nicht. Seine Frau Brunhilde teilt sein Hobby. Mittlerweile haben beide 20 Büchlein veröffentlicht und an nahezu 50 Ausstellungen teilgenommen. Und natürlich kennen sie die Geschichte des Erzgebirgsdichters Kurt Arnold Findeis von der Waschfrau, deren Mann im Napoleon-Feldzug geblieben war. Mit ihren Kindern lebte sie in bitterer Armut und konnte die Miete nicht zahlen. Der Hauswirt, ein Schornsteinfeger, wollte sie vor die Tür setzen. Doch davor bewahrte sie ein Zufall: Die Kinder spielten mit verdorrten Pflaumen und Holzstäbchen. Plötzlich hielt eines ein Männlein in der Hand, das sie verkaufen konnten. Die Familie war gerettet.

Nein, die Geschichte ist zwar schön, meint der ehemalige Mathematiklehrer Hanusch, sie widerspricht aber historischen Tatsachen. Doch viel ist es nicht, was an Hintergründen über den Pflaumentoffel in alten Dokumenten zu finden ist. Erst eine Zeichnung aus dem Jahr 1853 verhalf ihm zu größerer Bekanntheit. Die Szene »Vom Christmarkte in Dresden« von Ludwig Richter spielt auf dem Striezelmarkt. Ein Mädchen lehnt müde an der Schulter ihres Bruders, auf einem Tisch stehen noch vier Pflaumentoffel und ein Schild: »Ausverkauf wegen Geschäftsaufgabe«. Die Striezelkinder wurden zum Symbol der Dresdner Weihnacht. Ihr Anblick rührt. Und wer hinschaut, entdeckt dahinter das traurige Kapitel Kinderarbeit. Mit dem Verkauf von Puppenstrümpfen, Körbchen, Nadelkissen, Watteschäfchen und Backpflaumenmännlein versuchten die Kleinsten zur Weihnachtszeit, ein paar Pfennige zu verdienen. Volkserzählungen belegen das für Dresden ebenso wie für Kamenz, Leipzig und Zwickau. Auch bei den aus Pflaumen zusammengesteckten Figuren mit der kleinen Leiter, die verkauft wurden, ging es um Kinderarbeit: Sie waren den Schornsteinfegerjungen nachempfunden, die damals in Schlote klettern und diese von innen reinigen mussten. »Sklavenarbeit«, sagt Brunhilde Hanusch.

Nach einem Erlass des sächsischen Königs im Jahr 1635 waren die Kaminfeger in und um Dresden für die Reinhaltung der Schlote zuständig und trugen somit Verantwortung für die Vermeidung von Bränden. Die ersten Schornsteine waren aus Holz gezimmert, mit Stroh und Lehm verkleidet und verliefen auch nicht immer senkrecht - und die komplizierte Reinigung erfolgte von innen. Dafür hielten sich Schornsteinfegermeister schmale, wendige Knaben, die sie über Agenten aus Waisenheimen holten oder direkt den Eltern abkauften. Waren die Knaben nicht schnell genug, zündeten bösartige Meister auch mal in der Feuerstelle Papier an. Viele Jungen stürzten ab.

Erst im Jahr 1877 wurde diese Art der Kinderarbeit verboten. Wenn aber Schornsteinfeger oftmals so böse waren, warum hieß man sie als Glücksbringer willkommen? Sie hatten eine lebenswichtige Aufgabe, denn sie bannten die Brandgefahr in Städten und Dörfern. In einigen Gegenden kamen sie alljährlich am 1. Januar, um die Rechnung zu kassieren und ihre Neujahrswünsche zu überbringen. So avancierten sie zu Glücksboten.

Im Laufe der Jahre haben die Hanuschs auch etliche Pflaumentoffel selbst gebastelt: mal mit und mal ohne Zylinder, mal aus Dörrobst und mal aus Holzperlen, meist schwarz und mal blau. Als Zierde halten sie in der Hand eine Glocke, eine Leiter, ein Körbchen oder einen Stern. Oft besteht der Kopf aus einer Walnuss, das entspricht der historischen Vorlage. Diese Pflaumentoffel besitzen allesamt kindliche Proportionen. Zu einem Toffel gehören heute elf Backpflaumen.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal