Weit weg und doch so nah

Tomás González drei Meistererzählungen

  • Erich Hackl
  • Lesedauer: 5 Min.
Wie ferne Ursachen nahe Wirkungen zeitigen können, beweist ein tapferer Zürcher Kleinverlag: Im Halbjahresabstand hat Edition 8 drei Bücher des Kolumbianers Tomás González (Foto: Verlag) herausgebracht - zwei Romane, jetzt einen Band mit Erzählungen -, und die Kunde von der positiven Aufnahme im deutschen Sprachraum hat den Verfasser endlich auch in seiner Heimat bekannt gemacht. Das ist vor allem ein Verdienst des Übersetzers Peter Schultze-Kraft, ohne den die kolumbianische Literatur bei uns, von García Márquez mal abgesehen, hauptsächlich nur durch die Kitschtanten Laura Restrepo und Ángela Becerra vertreten wäre. Bei der Suche nach Material für seine beiden großen Anthologien mit kolumbianischen Erzählungen (»Und träumten vom Leben«, »Hören wie die Hennen krähen«) ist Schultze-Kraft erstmals auf González aufmerksam geworden, einen wortkargen, zurückgezogen lebenden Schriftsteller, der lange Zeit in den USA zubrachte. Schon die Romane »Horacios Geschichte« und »Am Anfang war das Meer« ging es um Eigenschaften und Verhaltensweisen der Protagonisten, die vom Autor ersonnen, ihm doch ebenbürtig zu sein scheinen. Drei Menschen, die aus ihren geordneten Lebensverhältnissen ausscheren. Die Ursachen bleiben zweimal im Dunkel, lassen sich im dritten Fall als Versuch deuten, das gute dem erfolgreichen Leben vorzuziehen. Dem einen, dem eine vielversprechende Künstlerkarriere nichts bedeutet, wird ein vorläufiges Ende als obdachloser Straßenmaler auf den Leib geschrieben. Der zweite verzichtet frohen Herzens auf Geld, Ansehen und Familie, um seinen drei Leidenschaften zu frönen: dem Tanzen, dem geselligen Beisammensein und dem Träumen mit offenen Augen. Carola Dickson schließlich, die nicht mehr ganz junge Titelheldin, Landratte aus Brooklyn, sticht mit einem ausrangierten Kutter in See, mit dem Vorsatz, nie wiederzukehren, sich besser anderswo um hilfsbedürftige Menschen zu kümmern. Die Tatsache, dass sie selbst in Not gerät und gerade noch vor dem Ertrinken gerettet wird, bedeutet nicht, dass sie gescheitert wäre. Es ist in der Tat eine der größten Tugenden dieses Erzählers, der sich seiner Figuren behutsam, fast scheu und mit heiligem Ernst annimmt: dass er dem Scheitern in seinem Denken und in seiner Kunst keinen Platz einräumt. Andererseits romantisiert er das Leben von Außenseitern genauso wenig, wie er die Härte unterschlägt, mit denen sie die Menschen strafen, die sich um sie sorgen. Er zeigt, wie abgrundtief Unglück sein kann (am stärksten in der Erzählung »Aguaceros de mayo« aus der spanischen Originalausgabe, die im vorliegenden Band fehlt), weigert sich aber, es automatisch als Katastrophe anzuerkennen. In den Geschichten, die González erzählt, legt niemand Hand an sich, nicht einmal der größte Pechvogel, und wenn gestorben wird, dann in einer sanften, dem Leben ergebenen Weise. Tomás González vertraut den Menschen, über die er schreibt. Er denunziert sie nicht, und er tritt ihnen nicht zu nahe. Es begleitet sie sein feiner Humor, der aus dem Wissen erwächst, dass vieles in unserem Zusammenleben vorläufig ist, und manchmal, ganz unvermutet, auch eine Spur Ironie. Er schreibt die traurigsten Geschichten der Welt. So traurig, dass uns bei der Lektüre das Herz zu brechen droht, weil in ihnen das Wissen um die höchste Freude eingefangen ist: um die Fähigkeit der Menschen, gütig und zärtlich miteinander umzugehen, sich zu verständigen notfalls auch ohne Worte, nur mit Gesten, Blicken, hin und wieder einer Berührung. Das ist es, was diese Traurigkeit heiter grundiert. Das ist es auch, was González' unheroischen Helden das Dasein lebenswert und den Tod erträglich macht. Das, und der Glaube an Irdisches. In der ersten Erzählung, »Ein unwahrscheinliches Grün«, wuchert der Urwald, den der kolumbianische Stadtstreicher in New Yorks Straßenschluchten auf Beton malt, wächst in den Himmel, belebt sich mit Reihern, Aras, Fröschen, lässt »von neuem die Gegenwart von Affen spüren, vielleicht von Menschen«. In der letzten endet der Tänzer William, der es zum Millionär gebracht und dann die Millionen reinen Herzens verspielt hat, als Reisender in Sachen Bonbons, Kochtöpfe und Büroartikel. »Manchmal kam die Lust reich zu werden wieder zurück, wie eine alte Wunde, die plötzlich zu schmerzen beginnt. Doch dann hieß es tanzen oder den Lieferwagen beladen, und er vergaß das Reichwerden wieder und ging in den Dingen auf, die das Leben an ihn herantrug.« Nicht anders als der theaterbesessene Lehrer in der schon erwähnten, noch nicht übersetzten Erzählung, der sich nach mancherlei Schicksalsschlägen in eine entlegene Gegend an der Karibikküste zurückzieht. Ein Wohltäter an Mensch und Tier, sorgsam auch im Umgang mit Pflanzen. Als er stirbt, bestatten ihn seine dankbaren Nachbarn auf einem Friedhof direkt am Meer, unter Schnecken, Muscheln, Seesternen und den Samen von Mangrovenbäumen. Weit weg von allem, und doch so nah! Im Nachwort verteidigt Schultze-Kraft seine Entscheidung, nur drei von fünf Meistererzählungen ausgewählt und - wie immer mit Hilfe großer Stilisten der deutschen Sprache - übersetzt zu haben, mit dem Hinweis auf die Intensität der Texte. Ein Band, der fünf Leben auf den Grund geht, wäre ihm zu gehaltvoll, fast nicht verkraftbar erschienen. Vielleicht hat er recht. Bei der Lektüre kann es einem jedenfalls wie dem kleinen Jungen in Argentinien ergehen (Santiago Kovadloff hat seinerzeit Eduardo Galeano davon berichtet), der zum ersten Mal das Meer sieht und von dessen Anblick so überwältigt ist, dass er seinen Vater anfleht: »Hilf mir, zu sehen!« Tomás González: Carola Dicksons unendliche Reise. Drei Leben. Deutsch v. Peter Stamm, Gert Loschütz, Ofelia u. Peter Schultze-Kraft. Edition 8. 138 S., geb., 15,80 EUR.
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