Der Wilde Westen Mailands

Das Malaboca-Kollektiv berichtet von Erfahrungen der Selbstorganisierung im Armenviertel Giambellino

  • Lesedauer: 4 Min.

Im ersten Moment war die Überraschung über die vielerorts aufflammende Wut und Kampfbereitschaft groß. Doch schnell wurde den Beteiligten klar, welch beschleunigenden Effekt diese Dynamik der Zwangsräumungen auf schon zuvor existierende politische Experimente der Nachbarschaftsorganisierung hatte, die bis dahin eher ein trauriges Dasein fristeten.

In Giambellino, einem Stadtteil in Mailand, hatten diese gut ein Jahr zuvor mit der Besetzung der ersten Basis begonnen: Ein Gebäude im Wohngebiet, in dem sich eine Handvoll Besetzer_innen aus dem Nachbarviertel traf und vergeblich versuchte in engeren Kontakt mit der lokalen Bevölkerung zu kommen. »Als wir in Giambellino angekommen sind, um mit den Leuten im Viertel zu reden, wirkten wir für diese in einer gewissen Weise wie Aliens. Wir sind hier angekommen und haben angefangen über Revolution und Kommunismus zu reden - dabei haben diese Dinge für die Leute vor Ort einfach überhaupt keine Bedeutung«, erinnert sich Luigi.

Als die Polizei nach einigen Monaten das Gebäude räumte, war das Interesse daran so groß, wie an dem Projekt zuvor: Gen null. Daraufhin wurde ein zweites Gebäude besetzt - diesmal gegenüber des lokalen Wochenmarktes gelegen und dadurch wesentlich sichtbarer und somit Teil des öffentlichen Lebens.

Auch die zweite Basis wird schließlich von der Polizei im Vorfeld der 1.Mai-Proteste 2015 gegen die in Mailand stattfindende Weltausstellung »Expo« geräumt. Doch diesmal regt sich Widerstand bei den Leuten, die mittlerweile eine Beziehung zu dem Ort und seinen ursprünglichen Benutzer_innen aufgebaut haben. Auch wenn die Reaktion medial im Schlachtenlärm des 1. Mai untergeht, dauert es nicht lange, bis die Mitglieder des mittlerweile gegründeten »Nachbarschaftskomitees Giambellino« eine dritte Basis besetzen, die sie auch heute noch nutzen. Gegenwärtig sind mehr als 60 Familien, die in besetzen Wohnungen leben, im Komitee organisiert - zunächst aus der akuten Angst vor einer Räumung. Aber mit der Zeit wurde mehr daraus, als nur eine Nothilfe-Struktur gegen die öffentliche Wohnungsbaugesellschaft ALER und die Polizei.

Die Basis ist ein wichtiger Ort des sozialen Zusammenlebens geworden, ein Ort der kollektiven Selbstorganisierung in Giambellino. Jede Woche gibt es eine medizinische Sprechstunde, zweimal Hausaufgabenhilfe, einmal Fußballtraining des eigenen Vereins Ardita Giambellino, ein gemeinsames Essen und natürlich die wöchentliche Versammlung des Komitees. Die Art, mit der man hier gemeinsam und selbstorganisiert Lösungen für die Misere des alltäglichen Lebens findet, hat einen enormen Effekt auf die politische Sozialisation derer, die daran teilhaben. Doch mitnichten ist dieser Lernprozess allein auf die »unpolitischen« Anwohner_innen begrenzt - im Gegenteil. »Ich denke, vor allem wir haben uns verändert. Denn als wir in Giambellino ankamen, gab es bereits diese anderen Formen des kollektiven Lebens jenseits von unseren Ideen. Nur wir mussten sie eben erst selbst noch kennenlernen«, erzählt Marco.

Hilfe bei der Kinderbetreuung, Stärke gegen Vermieter_innen und Polizei oder ein gratis Gesundheitscheck sind ganz konkrete Nutzen, die eine Mitgliedschaft im Komitee bedeuten und für viele hier überlebenswichtig sind. Und durch den politischen Diskurs, der anfangs von den Initiator_innen mitgebracht, aber längst ein kollektiv weiterentwickeltes Produkt geworden ist, haben diese ein enorm widerständiges Potenzial bekommen, deren zentrale Botschaft ist: Staat und Kapital haben kein Interesse daran, unsere Bedürfnisse zu befriedigen - dann machen wir es eben selbst! Marco beschreibt diesen Prozess wie folgt: »Die Leute bemerken nach und nach, was passiert. Am Anfang werden sie vielleicht aktiv, weil sie ein persönliches Ziel verfolgen, nämlich eine Wohnung haben zu wollen. Aber dort hört unsere Arbeit nicht auf - sonst würden wir uns auf der selben Ebene der Wohltätigkeitsarbeit bewegen, wie die Kirche oder andere Organisation sie machen. Aber das reicht höchstens aus, um sein Gewissen rein zu waschen.« Es wird deutlich, dass das Komitee weitaus mehr als eine bloße Anbieterin selbstorganisierter Sozialleistungen mit revolutionärem Touch ist. Es geht hier nicht bloß um die Befriedigung ökonomischer Grundbedürfnisse. Es geht darum, eine andere Art des Zusammenlebens zu kultivieren, die nicht nur die materiellen Schäden kapitalistischer Verwertung zu mildern versucht, sondern gerade auch ihren sozialen Zurichtungen etwas entgegen zu setzen.

Der Text ist ein Auszug der Broschüre »Uniti Possiamo Tutti. Selbstorganisierung und soziale Kämpfe in Mailand« des Malaboca-Kollektivs. Die Aktivist_innen bereisen seit Jahren verschiedene Städte und berichten über die dortigen Kämpfe.

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