Die Stadt: eine Pralinenschachtel

50 Texte aus 60 Jahren - Eine literarische Einladung nach Berlin

  • Sabine Neubert
  • Lesedauer: 3 Min.

Berlin, bekanntlich auf märkischem Sand gebaut, ist (glücklicherweise) eine provinzielle Weltstadt, jedenfalls möchte sie Letzteres sein und Ersteres verleugnen. Deshalb tummeln sich hier auch sehr viele, die es anderswo in Deutschland (also in der sogenannten Provinz) langweilig finden, allen voran die Künstler und die Literaten und was sich so dafür hält.

Zu den Alteingesessenen gesellt sich die große Schar der neugierigen «Zugvögel» und der neu Hinzugezogenen, so, wie es - mit Ausnahme der 28 «Mauer-Jahre» - in Berlin immer schon gewesen ist. Und sie halten mit ihren poetischen Lob- oder Schmähreden, mit Satirischem und Absurdem, mit Elegischem und Bissigem, mit Ernstem und Heiterem nicht hinterm Berg. Sie haben es den Herausgebern leicht gemacht, denn die konnten in eine prall gefüllte Schatztruhe greifen und daraus rund 50 kleine, in den letzten 60 Jahren geschriebene Berlin-Texte bekannter Autorinnen und Autoren auswählen.

Deren Namen (um nur einige zu nennen) reichen von Mascha Kaleko über Christa Wolf bis zu Kathrin Schmidt, von Adolf Endler, Volker Braun und Jurek Becker bis zu Christoph und Jakob Hein, Sven Regener und Jan Wagner (hier wähle ich etwas willkürlich aus). Schön ist, dass auch Song-Texte hineingenommen wurden, die einfach zu Berlin gehören, solche von Ton Steine Scherben oder von Ideal, aber auch die «Wilmersdorfer Witwen» vom Grips-Theater.

Die frühesten literarischen Äußerungen stammen aus den 1960er Jahren: «Im Verfolg städtebaulicher Erwägungen» (1968) von Johannes Bobrowski und «Berliner Zimmer» (1965) von Ingeborg Bachmann. Hier findet sich schon diese Mischung aus Bodenständigem und Flüchtigem, aus Gastsein und Bleiben(müssen). Im jüngsten, eigens für die Anthologie geschriebenen Text mit dem Titel «Diesseits und jenseits der Hauptstraße» beschreibt Katharina Hacker den unglaublich schnellen Wandel ihres bunt gemischten Kiezes in Schöneberg: «Was geschieht, sammelt sich an und geht über die Straßen hinweg, während es die Straßen imitiert, sich ihnen anähnelt, bis zur Unkenntlichkeit, bis zum Vergessen, es sind dieselben Straßen ... , und etwas bleibt immer unvollkommen.» Besser lässt sich dieses flüchtig-schattenhafte «Berlin-Gefühl» kaum ausdrücken.

War die Auswahl auch groß, so erweist sich die Zuordnung zu Themenkomplexen wie «Kiez und Milieu», «Passagen, Grenzverkehr», «Berliner Ränder» usw. durch zeitliche und inhaltliche Überschneidungen als schwieriger. Da wird der Leser zum Flaneur durch Zeiten und Räume einer auseinandergerissenen und wieder zusammengewürfelten Stadt, deren Puzzle-Teile und «ausfransende» Ränder (Ingo Schulze) - Grunewald und Friedrichshagen, das alte noble Charlottenburg (beschrieben von Heinz Berggruen) und der «Prenzlberg» Adolf Endlers, Wedding und das angesagte Bötzowviertel (Annett Gröschner), Prinzenbad und die «PARISBAR» Heiner Müllers - nicht so richtig zusammenpassen wollen.

Und was ist nun Berlin eigentlich? «Eine alte Wunde» (Mascha Kaleko)? Ein Paradies für Spekulanten, wie es Günter Grass’ Fonti in «Ein weites Feld» schon 1995 vorausgesehen hat? Ein Ödland um den Hauptbahnhof, «wo kein Zug endet» (Katja Petrowskaja), die Stadt, deren «größte Bevölkerungsgruppe» die Ratten sind (Tanja Dückers) oder ein «mit »Geschichtsgerümpel vollgestopfter Sack« (Durs Grünbein)? Eben alles!

Am besten gefällt mir aber doch Katja Lange-Müllers Vergleich der Stadt mit einem »Verlegenheitsgeschenk« (so in »Böse Schafe«, 2007), nämlich einer Schachtel Kaufhauskonfekt: Auf einer Seite liegen die in Goldpapier gewickelten Pralinen, auf der anderen Seite die »nackten«. Und doch ist alles gleich. Nur dass in den letzten Jahren irgendwer die goldgewickelten und die nackten ein bisschen durcheinandergemischt hat.

Susanne Schüssler, Linus Guggenberger (Hg.): Berlin. Eine literarische Einladung. Salto-Reihe im Verlag Klaus Wagenbach, 144 S., Leinen, 17 €.

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