Ein ganz neues Buch

Marcel Proust auf dem Weg zu seinem Roman »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«

  • Klaus Bellin
  • Lesedauer: 5 Min.
Zuerst ist es bloß »eine längere Arbeit«, die Marcel Proust Anfang 1908 ankündigt und an der er schon einige Zeit arbeitet. Bald wird er konkreter werden und von einem Roman sprechen. Er braucht noch fünf Jahre, dann ist das Werk fertig. Inzwischen ist es mächtig in die Breite geflossen. Im Sommer 1912 sind es schon »sieben-, acht- oder neunhundert Seiten«, im Oktober sogar über tausendzweihundert. Da weiß er längst, dass er mit einem einzigen Buch nicht auskommen wird. Proust rechnet nun mit zwei Bänden, schickt einen ersten Teil Ende 1912 gleich an zwei Verlage, darunter Gallimard, wo André Gide die Lektüre bald aufgibt, was er später zu seinen größten Fehlern rechnet. Beide Verlage lehnen ab. Im Februar 1913 eine weitere Absage. Erst der vierte Versuch, den Roman unter die Leser zu bringen, gelingt. Auch der junge, noch ziemlich unbekannte Verleger Bernard Grasset findet das Buch, wie er später gestehen wird, unlesbar - irritiert schon vom Anfang, der lang und breit von einem jungen Mann erzählt, der früh zu Bett geht, nicht einschlafen kann und sich seiner frühen Tage erinnert. Aber weil der vermögende Autor die Finanzierung übernimmt, entschließt sich Grasset, es zu publizieren. Wochen später erhält Proust, versehen mit dem Stempel vom 31. März 1913, ein Paket mit den ersten Druckfahnen in jeweils drei Exemplaren.

Er hat sich offenbar gleich an die Arbeit gemacht. Eigentlich ist ja nicht viel zu tun. Er müsste jetzt nur Fehler suchen und verbessern, das eine oder andere neu formulieren, vielleicht auch Überflüssiges tilgen, aber Proust stellt auf einmal alles, was ihm da vorliegt, den gesamten Roman, infrage. »Meine Korrekturen«, schreibt er am 12. April 1913, »sind bis anhin … nicht wirklich Korrekturen. Es bleibt nicht eine von 20 Zeilen des ursprünglichen Textes (ohne von einer anderen ersetzt zu werden).« Er ändert den Titel, statt »Das Flimmern des Herzens« soll das Buch »Combray« heißen, er tilgt ganze Absätze, fügt ein, quetscht neue, handgeschriebene Passagen an die Ränder, nutzt jede weiße Fläche für Korrekturen, streicht manches wieder, schreibt und kritzelt, heftet an die Seiten, wenn der Platz nicht ausreicht, weitere Blätter, kleine und größere, stiftet so ein nahezu unentwirrbares Chaos aus Streichungen und Zusätzen und ahnt natürlich, was er den bedauernswerten Druckern zumutet. Er werde ihm Geld überweisen, beruhigt er den Verleger. »Denn ich habe die Fahnen, die Sie mir zugesandt haben, so stark überarbeitet, dass ich ein unredlicher Mann wäre, wenn ich eine solche enorme Zahl von Korrekturen als Teil unserer Übereinkunft betrachten würde.«

Schon im April 1913 wird ein Besucher, der die Blätter sieht, überrascht sagen: »Aber das ist ja ein ganz neues Buch.« Den Lesern des Romans »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« blieb diese Urfassung verborgen. Sie kannten lange Zeit nur, was schließlich im November 1913 in den Buchhandlungen Frankreichs lag, versehen mit der Jahreszahl 1914, weil Bernard Grasset sich nicht vorstellen konnte, dass der Autor, versunken in seine radikale Korrekturarbeit, termingerecht fertig werden würde. Die Druckfahnen mit dem Text des Romans, der Keimzelle des epischen Gebäudes, das am Ende sieben Bände umfassen wird, zunächst im Besitz der Erben und danach eines Sammlers, tauchten erst bei der Londoner Versteigerung im Juli 2000 auf. Seitdem lagern sie in der Foundation Martin Bodmer nahe Genf. Sie sind 2013 erstmals vom Verlagshaus Gallimard in einer kostspieligen, luxuriösen Faksimile-Ausgabe vorgestellt worden. Die Andere Bibliothek, bekannt und gerühmt für ihre exquisiten Editionen, gibt nun auch deutschen Lesern die Gelegenheit, das ursprüngliche Buch mit dem Titel »Das Flimmern des Herzens« kennenzulernen und mit der endgültigen Fassung des ersten Bandes zu vergleichen.

Zu verdanken ist der faszinierende Blick in die Werkstatt des Marcel Proust vor allem dem Schweizer Stefan Zweifel. Er hat nicht nur die frühe Version des Jahrhundertromans mit allen Varianten, auch den Passagen, die verworfen wurden, aus den französischen Druckbögen übersetzt (und im Vorwort sowie im Anhang kommentiert), sondern stellt im Paralleldruck auch das publizierte Eröffnungsbuch der riesigen Erzählung in eigener Übersetzung vor (die schon im ersten Satz von der bekannten Übersetzung Eva Rechel-Mertens und auch der neueren von Bernd-Jürgen Fischer abweicht). Dabei wurden durch verschiedenfarbigen Druck alle Änderungen, Streichungen und Korrekturen im Urtext kenntlich gemacht. Der Verlag, der sich der kühnen Herausforderung stellte, spricht mit Recht von höchster Satzkunst und der aufwendigsten Publikation seiner Geschichte. Sie ist ein editorisches Meisterstück, erfreulicherweise auch eine bibliophile Kostbarkeit geworden und dürfte zu den schönsten Büchern des Jahres 2017 gehören, bestechend realisiert vom Buchgestalter Jonas Vogler. Jedem Exemplar liegt zudem das Faksimile des ersten Druckbogens bei.

Marcel Proust ist, während er 1913 auf den Korrekturfahnen seinen neuen (aber keinen anderen) Roman schrieb, immer magerer geworden. Er sei kränker, meint er, »als ich je war«. Er ist nun zweiundvierzig Jahre alt und träumt vom Prix Goncourt, der sein Buch ins Licht rücken würde, »und man würde es lesen«. »Ich habe es streng und sorgfältig komponiert«, schreibt er, »um mich nicht davor fürchten zu müssen, gelesen zu werden.« Den wichtigen französischen Literaturpreis erhält er 1919 für den zweiten Band des Romans. Da reißt man sich schon um ihn. Der abschließende Roman »Die wiedergefundene Zeit« erscheint 1927 in zwei Bänden, fünf Jahre nach seinem Tod. In Deutschland setzen sich, nach einem misslungenen Versuch Rudolf Schottlaenders, Walter Benjamin und Franz Hessel für den Proust-Roman ein. Sie übersetzen die ersten beiden Bände. Aber erst Eva Rechel-Mertens schenkt deutschen Lesern zwischen 1953 und 1957 das vollständige Werk. Damals schrieb Theodor W. Adorno: »Vielen Franzosen gilt Proust für ›deutsch‹. Ich wüßte mir literarisch nichts Schöneres zu wünschen, als daß die Deutschen den säkularen Dichter verbindlich und in all seinem abgründigen Reichtum so sich zueigneten, wie nur je einen aus anderen Jahrhunderten.«

Marcel Proust: Das Flimmern des Herzens. Übersetzt, mit Vorwort und Anhang versehen von Stefan Zweifel. Die Andere Bibliothek, 696 S., geb., 42 €.

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