Streit um staatliche Eingriffe in Lebensmittelindustrie

Ernährungsbranche lehnt Einmischung ab und feiert Rekordumsatz / Verbraucherschützer: Bürger wünschen sich Ampelkennzeichnung

  • Haidy Damm
  • Lesedauer: 3 Min.

»Industriell gefertigte Lebensmittel machen krank und süchtig.« Mit diesem Satz bringt der Berliner Arzt und Leiter des Projektbereichs Internationale Gesundheitswissenschaften an der Charité, Peter Tinnemann, die problematische Seite der aktuellen Ernährungssituation auf den Punkt. Denn laut den Zahlen der Weltgesundheitsorganisation gibt es auf der Welt mehr Über- als Untergewichtige. Auch die Krankheiten, die damit in Verbindung stehen, nehmen stetig zu. So erkranken in Deutschland nach Angaben der Deutschen Diabetes Gesellschaft jeden Tag mehr als 700 Menschen neu an Diabetes. Mit verantwortlich gemacht wird die Ernährungsbranche, die zu viel Zucker und Fett in die Lebensmittel packt.

In der Konsequenz sind »billige Lebensmittel am Ende ungeheuer teuer«, erklärte am Montag in Berlin Alexander Müller vom ThinkTank for Sustainability.

Die so gescholtene Industrie sprach am Mittwoch zum Auftakt der Internationalen Grünen Woche in Berlin von »Alarmismus von Verbraucherschützern«. Staatliche Vorgaben und Eingriffe womöglich in die Rezepte weist der Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie (BVE), Christoph Minhoff, entschieden als »Eingriffe in die unternehmerische Freiheit« zurück und verweist auf die eigene Innovationsfähigkeit der Unternehmen. Aufgabe des Staates und einer neuen Bundesregierung sei es laut Minhoff, »den Regulierungsdruck zu senken und die Wettbewerbsfähigkeit zu stärken«. Er forderte Bürokratieabbau, Steuersenkungen sowie den Abbau von Exporthemmnissen.

Die Branche erwartet für das abgelaufene Jahr einen Rekordumsatz: Nach ersten Schätzungen stieg der Umsatz im Jahr 2017 im Vergleich zum Vorjahr um 5,7 Prozent auf 181 Milliarden Euro. Minhoff bezeichnete die Lebensmittelexporte dabei als den »Wachstumsmotor der Branche«. So seien die Exporte um 6,9 Prozent auf 60,4 Milliarden Euro gestiegen. Auch für dieses Jahr sind die Vertreter der Lebensmittelbranche optimistisch. Laut einer Konjunkturumfrage der BVE erwarten rund 65 Prozent der befragten Unternehmen 2018 höhere Umsätze.

Ein Großteil des Umsatzplus ist durch Preissteigerungen entstanden. Höhere Preise für Lebensmittel erwartet auch der Präsident des Deutschen Bauernverbandes (DBV), Joachim Rukwied. Der Preisauftrieb dürfte sich aber verlangsamen, erklärte Rukwied. Der Verband rechnet 2018 mit Preiserhöhungen für Lebensmittel von 1,5 Prozent im Durchschnitt. Die wirtschaftliche Situation habe sich nach den Krisenjahren im Jahr 2017 erholt. Insgesamt haben auch die deutschen Agrarexporte 2017 einen Höchststand erreicht. Nach vorläufiger Berechnung wurden im vergangenen Jahr Agrarprodukte, Lebensmittel sowie Landtechnik im Wert von 78,3 Milliarden Euro ausgeführt. Das entspricht einem Anstieg um 3,9 Prozent, wie die Export-Förderorganisation Gefa am Donnerstag in Berlin mitteilte.

Während Bauernverband und Ernährungsindustrie Kritik und staatliche Eingriffe zurückweisen, zeigt eine am Mittwoch veröffentlichte Studie der Georg-August-Universität Göttingen im Auftrag des Verbraucherzentrale Bundesverbandes: Zwei Drittel (66 Prozent) der Bevölkerung wünschen sich mehr staatliche Eingriffe in die Lebensmittelindustrie. Vier von fünf Befragten (79 Prozent) befürworteten eine Ampelkennzeichnung auf Verpackungen zum Fett-, Salz-, Zucker und Kaloriengehalt der Produkte. Mehr als die Hälfte (54 Prozent) plädiere für eine verbindliche Festlegung von Höchstmengen für Zucker, Fett und Salz, sagte der Lebensmittel- und Agrarexperte Achim Spiller von der Göttinger Uni.

67 Prozent der Deutschen sprechen sich der Umfrage zufolge auch für ein Verbot für an Kinder gerichtete Werbung aus. Lebensmittelskandale wie der um die Fipronil-Eier im vergangenen Sommer hätten zudem das Vertrauen der Verbraucher in die Erzeuger nachhaltig erschüttert. So gehen 64 Prozent der Befragten davon aus, dass es auf dem Lebensmittelmarkt viele »schwarze Schafe« gibt.

Große Defizite gebe es auch bei Lebensmittelwarnungen. Nur 38,5 Prozent fühlen sich durch staatliche Stellen gut bis sehr gut informiert. Das Internetportal lebensmittelwarnung.de kennen nur rund 13 Prozent der Verbraucher. Davon schaut aber nur ein Prozent häufig darauf, um sich zu informieren.

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