Fuchtig wie wild gewordene Klapperschlangen

Ultraschall - Festival für Neue Musik Berlin: Kammerkonzerte im Radialsystem V und Pierre-Boulez-Saal

  • Stefan Amzoll
  • Lesedauer: 3 Min.

Fällt der Name des Festivals, so fallen neben Orchesterkonzerten auch diverse Veranstaltungen mit Kammermusik ins Gewicht. Ensembles stellen sich vor. Im eben beendeten Jahrgang Ascolta zum Beispiel oder das Ensemble Nikel, so zusammengesetzt, dass Spezialstücke hermüssen, denn für die Besetzung E-Gitarre, Saxophon, Schlagzeug, Keyboards gibt es keine druckbare Literatur wie für Strichtrios oder Bläserquartette. Nikel existiert seit 2017 und spielt Jazz ebenso wie experimentelle Musik, und liebt es, zu improvisieren. Vier Stücke, alle in den letzten Jahren entstanden, erklangen vor dem bestens gefüllten Auditorium. Von Ahn Cleare »the square of yellow light that is your window«. Mit Inside-Flügel, Altsaxophon, Metallophonen, Blasharmonika, mit Geigenbogen gestrichener Gitarre riss es holprig-bewegte Konturen auf, mehr den Arten und Unarten des Geräuschs als Girlanden des Klangs verhaftet.

Auch bei Yair Klartags »Fragments of Profound Boredom« schien das der Fall. Es hebt mit einem gewaltigen Gongschlag an, bevor das Baritonsaxophon dunkel-motorisch zu dröhnen beginnt. Das Ticken von Uhren und Metronomen sowohl wie wilde Repetitionen des Ensembles gehören zum Outfit des Stücks. Musik, alte wie neue, hat immer auch eine optische Komponente. Sie ist manchmal anregender als das Erklingende. Ulkig anzusehen Mark Bardens »Witness«. Es beginnt leise, gehaucht, was dann im Weiteren ungefähr so bleibt. Drei Spieler fingern auf den Saiten im Innern des Flügels, als würden sie eine Pantomime vorführen. Einer von ihnen entlockt dem Korpus sogar Geräusche, indem er mit der bloßen Hand die Politur so behandelt, als verdiente das Möbel eine Reinigung.

Klar strukturiert Enno Poppes 12-minütiges »Fleisch« für Saxophon, E-Gitarre und Drumset, es eröffnete den Nachmittag. Anzuhören war eine dreiteilige, schalkhaft hintergründige Versuchsanordnung mit Klängen und Bruitismen zwischen Modern Jazz Band und Ensemble. Fuchtig wie wildgewordene Klapperschlangen die Aktionen der Ecksätze, während im langsamen Mittelteil das rauchige, elegisch säuselnde Tenorsaxophon sich durch die knappe Zeit quält.

Der Saal im Radialsystem V war danach wiederum hervorragend besucht. Der Kontrabassist Caleb Salgado gab sich die Ehre. Superschwere Stücke bewältigt er, als wären sie Spielzeug. Unfug, schöne Formen oder gar Melodien auf dem Bassinstrument, der »Oma«, wie die Jazzer sagen, zu erwarten. Zu Gehör kam überwiegend die Zelebration dessen, was auf dem Instrument möglich ist. Brian Ferneyhoughs »trittico per g.s.« gehorchte noch am ehesten Mustern gewohnter Formung. Helmut Lachenmanns »Pression« (ursprünglich für Cello gesetzt) in der Fassung für Kontrabass demonstrierte indes, wie Klänge entstehen, wie anfällig oder willfährig sie ihrer Denaturierung begegnen und wie wenig oder wie viel sie auf der Zeitachse an Ergebnissen bewegen können. Solche Stücke klingen wie Lehrbeispiele. Der Gehalt des Hervorgebrachten, wenn es denn einen gibt, ist irrrelevant. Caleb Salgado ist tatsächlich einer der großen Kontrabassisten unserer Zeit. Das erwies schließlich die Wiedergabe von Pierluigi Billones »Utu An-KI Lu«. Das Stück dauert fast 40 Minuten und reißt durch alle nirgends eindeutig disponierten Lagen, Farben, Linien, Geräusche, Tempi, Metren hindurch eine ganze Welt auf.

Einer Extra-Besprechung bedürfte der Abend mit der Geigerin Carolin Widman. Sie musizierte im voll besetzten Pierre-Boulez-Saal 5 Werke europäischer Komponisten (Dusapin, Abrahamsen, Benjamin, Poppe, Sciarrino). Durchweg bestens durchgebildete, spannende, der Philosophie des Instruments vollkommen gehorchende Stücke. Eines spieltechnisch schwieriger als das andere, darunter schöne, anmutige, auch capricciose, paganineske Angebote. Es schien, als wäre nicht die Orgel, sondern die Violine die Königin der Instrumente und ihre Spielerin die begabteste, einfühlsamste Figur unter den heute lebenden Geigerinnen. Ein Wunder dieser Abend.

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.