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  • Zur Seele: Erkundungen mit Schmidbauer

Pass auf!

Mit den alltäglichen Gefahren haben sich auch Elternpflichten multipliziert

  • Dr. Wolfgang Schmidbauer
  • Lesedauer: 4 Min.

Wer die Straße mit Eltern teilt, die zu Rad oder zu Fuß mit Kindern unterwegs sind, hat die Szene sicher auch schon erlebt. Ich sehe von weitem einen Vierjährigen, der hellwach und schon recht geschickt mit seinem Laufrad in der Mitte der Fahrbahn balanciert. Ich habe einen klaren Kurs, wie ich problemlos vorbeikomme, vorsichtshalber die Hand an der Bremse, man weiß ja nie. Und in der Tat: Ein Elternteil sieht den herankommenden Radler und schreit das Kind an: »Pass auf!«

Jetzt wird das Kind unberechenbar. Es hat ja schon die ganze Zeit aufgepasst, nicht vom Rad zu fallen, wie bitte soll es das noch steigern? Blick zu den Eltern, hastiges Steuern zum nächstliegenden Straßenrand, Seitenblick auf den jetzt ebenfalls zum Stillstand gekommenen Erwachsenen, der entweder stumm die Szene verlässt oder vielleicht noch den Vierjährigen tröstet: »Keine Angst, auch ich passe auf, selbst wenn es mir deine Eltern nicht zutrauen.«

An einem schönen Tag, gemütlich mit dem Rad unterwegs, kann der Psychologe über die Dynamik solcher Szenen nachdenken. Da ist erst einmal die moderne Gesellschaft, die den Rahmen liefert. Selber habe ich noch eine Kindheit erlebt, in der eine heute zur Beinahe-Autobahn ausgebaute Bundesstraße der Schulweg war, auf dem ich sechsjährig mit meinem schweinsledernen, vom dörflichen Sattler gefertigten Schulranzen entlangtrottete und mir dadurch kurzen Ruhm verschaffte, dass ich einen Nachbarbuben in den Straßengraben schubste, aus mir heute (und vielleicht schon damals) nicht greifbarem Anlass. Wenn ein Auto kam, blieben wir stehen und bestimmten die Marke.

Seither haben sich die Gefahren und auch die Elternpflichten multipliziert. Ein Beispiel ist die Reise mit dem Kind. Als meine Älteste 1967 geboren wurde, lebten wir das Sommerhalbjahr in Italien. Als sie sechs Wochen alt war, stellten wir die Tasche mit dem Baby auf den Rücksitz des VW-Käfers und fuhren in die Toskana. Später schlief sie auf der Rückbank. Heute würde die Polizei Eltern anhalten, die so unterwegs sind.

Eine Familie verreist über die Feiertage und vergisst den achtjährigen Sohn. Das arme Kind? Im Gegenteil. Kevin genießt die Freiheit, alles zu tun, was er sonst nicht darf, und verteidigt am Ende mit raffinierten Fallen das Eigentum der Eltern gegen zwei Einbrecher. Kinder lieben diesen Kevin; Erwachsene auch - so lange ihre eigenen Kinder ihm nicht nacheifern.

Die neuen Gefahren haben viel mit Beschleunigung zu tun. Wer sein Baby in der Tragetasche auf den Rücksitz stellt, ignoriert die Tatsache, dass es bei Autobahngeschwindigkeit wie aus der Kanone geschossen durch den Innenraum des Autos fliegt, wenn dieses durch einen Aufprall gestoppt wird. Anders als zu Zeiten meines Schulwegs müssen wir heute damit rechnen, dass sehr viele Fahrzeuge mit zum Teil überhöhter Geschwindigkeit überall dort unterwegs sind, wo es Verkehrsfläche gibt. Man kann den Eltern, die »pass auf!« schreien, keinen Vorwurf machen. Sie wollen durch ihren blinden Eifer die Ohnmacht ausgleichen, in die sie der chronische Mangel an Rücksicht und Empathie im öffentlichen Raum versetzt.

Wenn der Staat durchsetzen könnte, was in der Straßenverkehrsordnung steht, wären die Kinder sicher. Dort heißt es, dass jeder nur so schnell fahren darf, dass er im Notfall anhalten kann.

Menschliche Qualitäten schwinden, sobald wir glauben, wir könnten sie durch Vorschriften und Strafen ersetzen. Tempolimit, Ampel, Vorfahrtschild sind auch eine Absolution für Misstrauen, Rechthaberei und Rücksichtslosigkeit. Der Schrei »pass auf!« drückt Angst aus, steht für einen Mangel an Glauben an die Fürsorge und Einfühlung der Mitmenschen.

Wo die Rede von den Helikoptereltern ist, die ihre Kinder umschwirren und vor schlimmen ebenso wie nützlichen Erfahrungen schützen möchten, sollte auch die Rede von dem Raum in der modernen Gesellschaft sein, den der Tempozwang rücksichtslos beherrscht. Wenn junge Männer Großstadtstraßen für wilde Rennen nutzen, übersehen wir im Zorn, dass längst alle Motorisierten zu schnell für Kinder und alte Menschen geworden sind. Mit dem schönen Slogan »time is honey« hat ein Autorenpaar, Vater und Sohn Geissler, nach Gegenstrategien gesucht. Wenn wir die Zeit zäh tropfen lassen, wird die Welt wieder süßer und wir müssen nicht mehr »pass auf!« schreien.

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