Traum vom gelungenen Leben

Vor 150 Jahren starb der wunderbare, oft verkannte Erzähler Adalbert Stifter

  • Klaus Bellin
  • Lesedauer: 6 Min.
So kläglich, so hinfällig, wie ihn das letzte Foto zeigt, war er erst, als er am Ende war, krank und dem Tod schon ganz nah. Lange hat es nach der Aufnahme nicht mehr gedauert, dann, in der Nacht vom 25. zum 26. Januar 1868, griff er zum Rasiermesser und schnitt sich die Kehle durch. Sein unglückliches Leben, dem wir so großartige Werke verdanken, war zwei Tage später beendet, aller Kummer über die elenden Tage und die gründlich missratene Ehe gelöscht und auch der Hunger endgültig besiegt, dieser schreckliche Hunger, der ihn quälte und dem er mit wahren Fressorgien beizukommen suchte. Frühere Bilder zeigen einen ganz anderen Stifter, einen aufgeschwemmten Mann, der nicht satt zu kriegen war. Er verschlang Unmengen Fleisch und trank Unmengen Bier, er rauchte und verschaffte sich auf diese Weise, was der trostlose Alltag ihm vorenthielt. Er haderte mit seinem Schicksal, und erst, wenn er sich gierig den Bauch vollschlagen konnte, war er mit sich und der Welt einigermaßen versöhnt.

Aber was für ein Erzähler. Unbegreiflich, wie viele Leser einen Bogen um ihn machen, weil man ihnen lange eingeredet hat, er sei nichts weiter als ein Idylliker gewesen, oder weil sie von ihm gerade mal gehört haben, dass er sterbenslangweilig sein soll. Friedrich Hebbel versprach sogar jedem, der den »Nachsommer« freiwillig zu Ende läse, höhnisch die Krone Polens. Friedrich Nietzsche dagegen fragte, was eigentlich, Goethe ausgenommen, von der deutschen Literatur bliebe, das es verdiene, wieder und wieder gelesen zu werden. »Der Nachsommer«, der »Anblick des Vollkommenen«, gehörte für ihn dazu. Gefeiert haben Stifter Karl Kraus, Hugo von Hofmannsthal, Thomas Mann, Hermann Hesse und Walter Benjamin, und auch heute gibt es genügend Stimmen, die energisch für diesen stillen, merkwürdigen, »heimlich kühnsten und wunderlich packendsten Erzähler der Weltliteratur« (Thomas Mann) werben. Peter Härtling hat noch zuletzt den »Nachsommer« zu den wenigen Büchern gerechnet, die in seinem »Brotschrank« stehen, und der Maler und Naturphilosoph Christian-Ulrich Baugatz berichtet in seinem Essay »Die Begier nach Wirklichkeit« von der Kraft, die man heute aus Stifters Prosa beziehen kann.

Einer, der sich schon jahrzehntelang mit dem Österreicher befasst, ist Wolfgang Matz. Er hat vor zwanzig Jahren eine eindrucksvolle, vielgelobte Biografie publiziert und sie etwas voreilig zum Schlusspunkt seiner Stifter-Beschäftigung erklärt. Nun offenbart er, dass er von Stifter nach wie vor nicht loskommt. Schon vor einem Jahrzehnt hat er, entgegen seiner Ankündigung, für den Hanser-Verlag sämtliche Erzählungen des Autors nach den Erstdrucken in einer schönen zweibändigen Dünndruckausgabe ediert, und kürzlich legte er die Lebensbeschreibung von 1995 noch einmal vor, überarbeitet, in Teilen erweitert und auch präzisiert. Für die einen ist dieses Buch, das längst den Rang eines Standardwerks hat, eine (sicher willkommene) Wiederbegegnung, für andere (und hoffentlich viele) eine Entdeckung. Zu den Vorzügen der eindringlichen, fesselnd geschriebenen Biografie gehört, dass sie das Bild des Schriftstellers von allen Undeutlichkeiten, Verzerrungen und Vorurteilen befreit und neugierig macht aufs Werk, dem Matz glücklicherweise viel Aufmerksamkeit schenkt.

Erzählt wird die Geschichte eines Mannes mit naiven, kindlichen Zügen, der, 1805 im böhmischen Oberplan geboren, nicht in der Lage war, »mit den Wechselfällen seines Lebens« umzugehen, der sich die bittere Realität, in der er landete, so gut es eben ging, schönredete, das mühselige Dasein als Privatlehrer und Unterhalter genauso wie die Banalität seiner Ehe. Er war ein sehr guter Schüler gewesen und ein mäßiger, verbummelter Student, er hatte Wünsche und Träume, die dann allesamt kläglich scheiterten. Erst als er nach Linz zog, erhielt er 1849 die erste wirkliche Stelle, einen Posten als Redakteur. Er liebte ein Mädchen namens Fanny Greipl und konnte sich nicht entschließen, es an sich zu binden, und als es nach achtjährigem Zögern zu spät war und die Angebetete, ewig hingehalten, einen anderen heiratete, brach seine Welt zusammen, und er stürzte sich 1837 in die öde Gemeinschaft mit der Putzmacherin Amalia Mohaupt, die ihm geistig hoffnungslos unterlegen war und überdies, zu Stifters großer Enttäuschung, keine Kinder bekam. Mit ihr, die offenbar nur genommen wurde, weil die andere nicht mehr zur Verfügung stand, war er schließlich einunddreißig Jahre verheiratet, versunken, wie Matz schreibt, in einer »Misere von Geldsorgen und Wohnungsnot«, immer klamm, immer von Pfändungen bedroht, unzufrieden mit sich und der Welt.

Nur in seinen Erzählungen, später gesammelt im Band »Studien«, und dann im Roman »Der Nachsommer« (1857), der Antwort auf die häusliche Misere und die enttäuschenden Folgen der Revolution, hat Stifter sein Elend besiegen können. Sein Lebensraum wurde das Schreiben. Auf dem Papier entwarf er, gepeinigt von ungeheuren Ängsten, seine Gegenwelten, Bilder von Stille und Harmonie, Prosastücke, die, in den Naturbeschreibungen unerreicht, seine Träume bewahrten und »seine Fähigkeit zum immer wieder erneuerten Staunen angesichts eines jeden Dinges, das er vor seinen Augen findet«. »Der Nachsommer«, handlungsarm, für Matz »eine Art Wunsch-Autobiographie seines Dichters«, das Traumbild eines gelungenen Lebens, beschrieb eine Welt, die still stand und sich bejahen ließ, ganz anders als die Welt, in der er lebte. Natürlich: Die Ruhe, die Klarheit, die er so unvergleichlich in seinen Sätzen einfing, das war nichts, was aus eigenem Erleben kam. Vom Glück, mit dem er seine Figuren gern beschenkte, hat er selber nie ein Zipfelchen erhascht. Ihm blieb nur, das ersehnte Leben in Prosa zu meißeln, unter deren Oberfläche es allerdings gefährlich brodelt und rumort. Die Heillosigkeit, die befürchtete Verwerfung der Maßstäbe, die geahnten Schrecken und denkbaren Katastrophen sind in der sorgsam gemalten Idylle, mit der er sich angestrengt gegen die Umwelt wehrt, immer präsent.

Bei Matz sieht man einen jungen, entschlusslosen Autor, der lange zwischen Malerei und Literatur schwankte und erst unter dem Druck der Umstände der Schriftsteller Stifter wurde. 1840 publizierte er die ersten Erzählungen. Und hatte gleich Erfolg. Von da an arbeitete er unermüdlich, ein angesehener Autor nun, den die Revolution von 1848 aber schon wieder in die Krise stürzte, der, zwischen 1850 und 1865 Schulrat in Linz, mit ansehen musste, wie ihm das Publikum, als die drei Teile seines historischen Romans »Witiko« erschienen (1865 - 1867), den Rücken kehrte. Stifter ist nach diesem Misserfolg immer apathischer und depressiver geworden. Zuletzt lebte er, ans Bett gefesselt, von Gram und Bitterkeit zerstört, mit rasender Geschwindigkeit bloß noch dem Rasiermesser entgegen.

Wolfgang Matz: Adalbert Stifter oder Diese fürchterliche Wendung der Dinge, Wallstein, 392 S., geb., 29,90 €. Christian-Ulrich Baugatz: Die Begier nach Wirklichkeit, trafo, 333 S., Klappenbroschur, 26,80 €.

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