Das Interesse scheint ungebrochen

Bachs geistliche Vokalwerke liegen nun in einer Gesamtausgabe vor. Der Univocale-Kammerchor führte die h-moll-Messe auf

  • Stefan Amzoll
  • Lesedauer: 5 Min.

Parallel zu berichten über eine Berliner Aufführung von Johann Sebastian Bachs h-moll-Messe und eine Neuedition seiner sämtlichen geistlichen Vokalwerke im Carus-Verlag Stuttgart, bietet sich förmlich an. Denn das eine wäre ohne das andere unvollkommen. Angefangen sei so: In einem Winkel der Hauptstadt war jenes Opus ultimum des Barockriesen dieser Tage zu hören. Die einzigartige, schwierig zu gestaltende h-moll-Messe kam in St. Jacob zu Berlin-Kreuzberg, jenseits der großen Tempel. Welch ein Lichtblick: Mit dem Univocale-Kammerchor und Orchester unter Christoph D. Ostendorf musizierten durchweg junge Leute. Der Chor ist, verglichen mit den großen Berliner Chören, die Bach singen, eher klein, die Größe des modernen Orchesters angelehnt an Vorgaben aus Bachs Leipziger Zeit als Thomaskantor. Rundum in der voll besetzten Kirche junge Gesichter. Das Interesse an Bach scheint ungebrochen. Die Partitur der h-moll-Messe gehört unterdes zum UNESCO-Weltkulturerbe.

Bach zu hören, erweckt nicht nur immer neues Staunen über die technisch-gestalterische Höhe seiner Musik, ihn anzueignen, schließt zugleich einen ganzen menschlichen und klanglichen Horizont auf. Einblick in den »ganzen Bach« gewähren überreichlich Notenausgaben und CD-Kompletteinspielungen solcher Größen der Bach-Aufführung wie Karl Richter, Nicolaus Harnoncourt, Gustav Leonhardt, Ton Koopman, Philippe Herreweghe, Masaaki Suzuki. Einblick gewähren zudem nicht zuletzt die Koryphäen der Sächsischen Bach-Aufführungstradition wie Günter Ramin, die Brüder Rudolf und Erhard Mauersberger, Peter Schreier, Hans-Joachim Rotzsch, Christoph Biller und Gotthold Schwarz, der jetzige Thomaskantor. Daneben kursieren zahlreiche wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Bücher. Es scheint alles perfekt zu sein, aber Perfektion gilt bei Bach allenfalls, wenn es um die Aufführung bestehender Noten und Partituren geht. Die allerdings sind teils schon immer revisionsbedürftig gewesen.

Hart, womöglich zermürbend, muss die Probenarbeit gewesen sein. Univocale und Orchester wirkten anfangs etwas müd. Dem Sopran-Duett »Christe eleison« fehlte es an klarer Artikulation und Lautstärke. Der Chor musste sich wohl erst einsingen, nachdem es ernst wurde. Sein »Kyrie eleison« klang nicht besonders erfrischend. Dünn geradezu der attacca einbrechende Chor »Qui tollis peccata mundis«. Aber das änderte sich schnell. Das »Cum Sancto Spiritu« mit Chor und den Solosopranen, das den Gloria-Teil beendet, klang atemberaubend bis zur letzten Note.

Theorie, Geschichte und Musizierpraxis sollen einander die Hand reichen. Das klappt, solange hinreichend Material überliefert ist. Aber bei Bach ist das nicht so einfach. Er war kein Richard Wagner, der jeden Zettel, jede Notenskizze aufgehoben hat oder aufheben ließ. Im Gegenteil. Die Quellenlage ist nach wie vor spärlich trotz etlicher Detailentdeckungen in den letzten 150 Jahren. Zum Glück gibt es einen Grundstock an Partituren, Abschriften, Autografen (etliche Kantaten gelten als verschollen), an Aufführungskonzeptionen, woran sich die Bach-Forschung nach wie vor abarbeitet, sodann nicht minder relevante Überlieferungen zu Bachs Aufführungspraxis an den verschiedenen Orten seines Wirkens als Komponist, Organist, Cembalist, Dirigent, Orchestererzieher: hauptsächlich Weimar, Köthen, Leipzig.

Schon immer war die Editionspraxis im Falle Bachs ein hoch kompliziertes Feld. Das ganz Material nun noch einmal durchgesehen, teils konsequent nach den Quellen verändert und verbessert zu haben, ist das Verdienst besagter Neuedition des geistlichen Vokalwerks von Bach. Ein Vorgang von Jahren und Jahrzehnten Forschungsarbeit, berechnet man die Vorleistungen etwa der Stuttgarter und Leipziger Bachforschung mit ein.

Alles, was an geistlicher Musik aus Bachs Feder floss, ist in die von Ulrich Leisinger und Uwe Wolf in Zusammenarbeit mit dem Bach-Archiv Leipzig herausgegebene Edition eingegangen. Gedacht ist sie zum Studium und zur Aufführung. Resultat ist die konsequente Überarbeitung älterer Ausgaben in Noten- und Textteilen »bei neuen Erkenntnissen zu den Quellen oder aus der historisch-informierten Aufführungspraxis«, wie es im Ankündigungstext heißt.

Von Teil zu Teil mehr besannen sich Univocale und Orchester auf ihre Möglichkeiten. Auch die Solisten um Mi-Young Kim und Minsub Hong. Die zusammenhängenden langsamen Chöre aus dem Credo »Et íncarnatus est« und »Crucifixus« kamen aufs Eindringlichste zur Geltung.

Für den steigenden Bedarf in Konzertsälen und Kirchen erschien im vorigen Jahrhundert die »Neue Bach-Ausgabe«. Ein nach Problemlage der Quellen unvollständiges deutsch-deutsches Projekt, herausgegeben vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und vom Bach-Archiv Leipzig. Gleichwohl eine Großtat. Dutzende Bände entstanden, gebunden in Leinen oder Karton. Zu den Herausgebern gehörte der verdienstvolle Musikwissenschaftler und Bach-Forscher Werner Neumann aus Leipzig. Er revidierte kritisch während er 60er Jahre vor allem die weltlichen Kantaten. Wer immer mit Musiktradition professionell befasst ist, der weiß, dass Musikpraxis, Musiktheorie und Musikgeschichtsforschung auf einen Gegenstand fokussiert möglichst zusammenstimmen müssen, sollen qualifizierte Überlegungen zur Sache und am jeweiligen Stand der Forschung orientierte Aufführungen herauskommen. Mit dem nun abgeschlossenen Mammutunternehmen trägt der Carus-Verlag Erhebliches für das Funktionieren dieser Trias bei Bach bei.

Das Projekt glänzt auch durch die erstmalige Veröffentlichung verschiedener Fassungen. Von der »Johannespassion« existieren vier Fassungen, die nun vorliegen. Auch Angebote für CD-Aufnahmen von Großwerken und DVDs, welche die Quellenerschließung und -bearbeitung optisch nachvollziehen, gehören dazu. Jede der Partituren enthält einen von avancierten Bach-Forschern verfassten Einführungstext. Der handelt einmal allgemein vom geistlichen Vokalwerk, zum anderen gilt er dem speziellen Werk. Der Text zur h-moll-Messe stammt von Mitherausgeber Ulrich Leisinger. Er behandelt den Entstehungshintergrund, die Werkgeschichte, die Überlieferungsgeschichte und die Editionsprobleme des Werks.

Hochinspiriert setzten Univocale und Orchester das »Et expecto resurrectionem« in den Kirchenraum. Das »Osanna in exelsis« exekutierte der Chor responsorisch geteilt, was die Wirkung erhöhte. So wunderbar wie erschütternd anzuhören das »Dona nobis pacem« am Schluss.

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