Subjekt der eigenen Demütigung

Fethi Benslama hat ein Psychoanalyse des Islam vorgelegt

  • Ursula Rütten
  • Lesedauer: 5 Min.

Offen gestanden ist die Rezensentin etwas ratlos. Nicht, dass sie Zweifel hätte an der Relevanz dieses Buches des in Tunis geborenen und in Paris lehrenden Psychoanalytikers Fethi Benslama. Über viele Jahre betreute er in einer öffentlichen Sprechstunde im Norden von Paris kostenlos Orientierung suchende oder bereits radikalisierte Jugendliche. Und erlangte so, selbst Muslim, tiefe Einblicke in die Verwirrung junger Menschen in Bezug auf die sie umgebende Gesellschaft, den Kodex ihrer Religion und die politische Realität.

Benslama geht es um theoretische Tiefenbohrungen, um Glaubensgrundfragen mit Blick auf alle drei monotheistische Religionen, den Islam, das Judentum und das Christentum. Zugespitzt auf Fragen, was den Glauben und die Suche nach Halt in der Religion im Kollektiv und beim Individuum erschüttert hat. Im Mittelpunkt steht dabei freilich der Islam. Minutiös zeichnet der Autor dessen Verortung im Wandel der Moderne nach und wie sich dessen rückwärtsgewandte Verwerfungen jenseits der «gängigen Interpretationen der politischen Soziologie», also mit psychoanalytischem Instrumentarium erklären lassen.

Was hat zu dem massiven und folgenreichen Unbehagen in der islamischen Kultur geführt? Zum weltweiten Einfluss fundamentalistischer Strömungen im Islam? Zur Konjunktur des islamischen Extremismus auf fast allen Kontinenten? Die Rezensentin drängt es in diesem Zusammenhang zudem zu der eher profanen, materialistischen Frage: Cui bono? Wer hat davon einen Nutzen? Und auf wessen Kosten?

Darauf finden sich in Benslamas Oeuvre bemerkenswerte Antworten. Zum Beispiel im «Postscriptum des im französischen Original bereits 2002 erschienenen Buches. Der Autor verwirft das gängige Erklärungsmuster Demütigung und Islam als eine »teuflische Falle«: »Die aktuelle Situation liefert uns zahlreiche Hinweise auf eine zwanzig Jahre währende tiefgreifende politische Zerrüttung in der arabischen Welt (also seit ca. 1980, U.R.), die ihre grundlegenden anthropologischen Strukturen erfasst hat. Ein verhängnisvoller Vorgang, der mit der Struktur der Macht zusammenhängt, hat eine Pathologie begünstigt, die nicht aufhört, Leiden und Verwüstung zu sein … In diesem Sinne ist die arabische Welt Subjekt ihrer eigenen Demütigung. Die Hauptschuld trifft zweifellos die Regierungen, … eine Clique von ›Inkompetenten‹ …, die sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, durch die Kombination von drei Merkmalen charakterisieren lassen: Sie sind häufig ungebildet, korrupt und tyrannisch.« Benslama nennt sie auch beim Namen.

Es seien dies zweihundert arabische Herrscherfamilien, die wichtigste »die Familie Saud mit ihrer Maschinerie, die seit Jahrzehnten Andersdenkende, Opposition und Kreativität mit Gefängnis und Folter, mit Mord, mit Korrumpierung der Eliten und mit einer der strengsten Gesetzgebungen der Welt (verfolgt). Ihre Baumeister haben die archaischen Formen der Dominanz der Männer und die Unterdrückung der Sexualität beibehalten und verschärft … Jeder Aufruf zum Jihad, der sich an die Muslime richtet, beruht auf einer Täuschung. Es gibt nur noch nationale Kriege oder es gibt Gangsterbosse, die davon träumen, Papst einer Religion zu werden, in der es keinen gibt.«

Die Lektüre des größten Teils dieses Buches setzt ein hohes Maß an religionswissenschaftlichem Detailwissen über die Offenbarung Gottes voraus, an Erkenntnisinteresse und an Vertrautheit mit der Exegese der Genesis, vor allem nach der Lesart des Korans und der Tradition des Propheten Mohammed, aber auch der Bibel und der Thora. Kenntnis der wechselseitigen Verflechtung (und partiellen Unterscheidung) der drei großen monotheistischen Religionen durch ihren gemeinsamen Ursprungsmythos und dessen Strahlkraft auf die Geschichte der abend- und morgenländischen Menschheit und ihre Kultur.

Benslamas Augenmerk gilt insbesondere den »Religionsstiftern«, der »Vaterfigur« beziehungsweise weiteren »Identifikationsfiguren« (Gott, Abraham, Allah, Mohammed, Moses). Welche Rolle spielen sie in der Erfüllung der Prophezeiung Gottes, das Göttliche im Menschen (Abrahams Sohn, die Vertreibung »Hagars« usw.) fortzupflanzen? Hier habe der Islam im Vergleich zu den beiden anderen Religionen ein - durchaus prekäres - Alleinstellungsmerkmal. In vielen kritischen Querbezügen misst Benslama vor allem Sigmund Freuds (in dessen Todesjahr 1939 verfasste) Schrift »Der Mann Moses und die monotheistische Religion« sowie seiner »Zukunft einer Illusion« an seinem eigenen psychoanalytischen Ansatz, den Islam und seine Deviationen in jüngerer Zeit zu deuten. Der muslimische Autor kritisiert Freuds »eurozentristischen« Blick, da er den Islam in seiner Betrachtung der monotheistischen Religionen quasi ausblende. Freud habe den Glauben als naive illusionäre Konstruktion betrachtet und Gott als behütende Vaterfigur idealisiert. Im Islam aber existiere Gott nicht als Vaterfigur, und die Menschen verstünden sich nicht als Gottes Kinder.

Benslama ist, mit Blick auf den Islam, im Kern daran gelegen, auf andere, differenziertere und kompliziertere Identifikations- und Interpretationsangebote hinsichtlich zentraler psychoanalytischer Kategorien wie »Verbot«, »Verdrängung«, »Triebkontrolle« und »Ich-Ideal« im Entstehen von Kultur und Gesellschaft zu verweisen. Wobei er besonders der folgenschweren »repressiven Verkettung des weiblichen Genießens« nachgeht, wie sie in der Ursprungsmythologie ihren Ausgang genommen habe und - mit Brüchen - bis in die Gegenwart hinein wirke. In der Praxis aber hat Benslama die Freudsche Psychoanalyse als Therapieinstrumentarium für radikalisierte und islamistisch infizierte junge Menschen tauglich gemacht hat, indem er sie kulturell adaptierte.

Dieses Buch leistet einen »unentbehrlichen Beitrag in der Auseinandersetzung mit dem Islamismus«, wie der Klappentext verheißt.

Fethi Benslama: Psychoanalyse des Islam. Wie der Islam die Psychoanalyse auf die Probe stellt. A. d. Franz. v. Monika Mager und Michael Schmid. Matthes & Seitz Verlag, 351 S., geb., 30 €.

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