Faires Taschengeld für alle!

In Tel Aviv bestreiken Jugendliche ihre Eltern. Das geht nicht? Doch.

  • Oliver Eberhardt
  • Lesedauer: 4 Min.

Der Mann, der den Familienfrieden gestört hat, ist ein stämmiger Israeli, »außen rau, innen ganz weich«, und heißt Avichai La‘or: »Jahr für Jahr halte ich Dutzende Informationsveranstaltungen für Schüler und junge Erwachsene ab«, sagt der 43-jährige Jugendfunktionär des israelischen Gewerkschaftsdachverbandes Histadruth: »Das dauert immer eine Stunde, in der ich erkläre, wie wichtig es ist, sich zu organisieren, um die eigenen Rechte durchzusetzen, und wenn wir Glück haben, dann haben wir danach vier, fünf Jugendliche, die sich bei uns engagieren.«

Doch in der Ironi Aleph-Mittelstufe im Norden Tel Avivs verlief das anders: »Wir haben verstanden«, sagt Tal Manor, 15 Jahre, Mitglied der Schülervertretung. Mitte Januar hatte La‘or vor gut 30 Schülern der auf Kunst spezialisierten Schule seinen Vortrag gehalten, und damit einen Nerv getroffen: »Wir haben hier Mitschüler, die nur 100 Schekel in der Woche an Taschengeld zur Verfügung haben«, sagt Manor, »dafür kriegt man kaum noch eine Kinokarte!« Dramatisches Fuchteln mit den Armen, Augenrollen. Die Mitschüler, die um ihn versammelt sind, setzen leidende Blicke auf.

Nachdem La‘or seine Sprüchlein aufgesagt hatte, habe jemand gerufen: »faires Taschengeld für alle«, berichtet der Gewerkschaftsvertreter. Es war der Beginn eines Arbeitskampfes, den auch die Histadruth, die erst vor einigen Wochen mit einem kurzfristigen Generalstreik gezeigt hatte, dass sie immer noch über große Macht verfügt, so noch nicht gesehen hat: Jugendliche bestreiken ihre Eltern, um mehr Taschengeld zu erhalten.

Nord-Tel Aviv ist vor allem Heimat von gut verdienenden, schön wohnenden, links wählenden israelischen Kleinfamilien. Nirgendwo sonst im Land verweigern so viele Jugendliche den Militärdienst. Die mehr als 20 Prozent der Israelis, die an oder unter der Armutsgrenze leben, ihren Kindern überhaupt kein Taschengeld zahlen können, wohnen anderswo.

Eine Kinderei verwöhnter Mittelständler also? »Nein, keinesfalls«, sagt La‘or, »es ist ein überraschendes Experiment, aus dem man sehr viel lernen kann, und zwar nicht nur die Jugendlichen, sondern auch wir Erwachsene.« Hinzu kommt: »Jeder einzelne dieser Jugendlichen wird irgendwann sein Elternhaus verlassen, einen, wahrscheinlich schlecht bezahlten, Job annehmen. Außerdem müssen wir in der Lage sein, politische Entscheidungen zu fällen, und das passiert viel zu oft, ohne genaues Nachdenken.«

Nachdem die Lehrer bei einer Elternversammlung am Abend nach dem Vortrag von den Streikplänen berichtet hatten, einigten sich die Erwachsenen darauf, mitzumachen, eine eigene Interessenvertretung zu gründen, und Lehrer und Gewerkschaft damit zu betrauen, den Prozess zu begleiten. »Wir wussten noch nicht, wo es hinführt, wir wollten den Kindern beibringen, dass auf Aktion eine Reaktion folgt, zum Nachdenken und Diskutieren anregen«, sagt Manors Vater Elior.

Und so kam es, dass die Schüler die Mitwirkung im Haushalt verweigerten, und die Eltern als Reaktion darauf weder kochten, noch die Wäsche wuschen. Seit einem Monat geht das nun schon so, samt Verhandlungsrunden zwischen Schülervertretung und Elternlobby über ein faires Taschengeld, in denen Argumente ausgetauscht und widerlegt werden.

Sehr bald fanden die Eltern einen eher unbekannten Paragrafen (den es in ähnlicher Form auch in Deutschland gibt), demzufolge Jugendliche zur Mitwirkung im mit den Eltern gemeinsam bewohnten Haushalt verpflichtet sind. »Leider gibt es keine Möglichkeit, das durchzusetzen«, sagt Manor. Aber kurz darauf stellten die Lehrer für Hauswirtschaftslehre ein gestiegenes Interesse an ihrem Fach fest: Die Jugendlichen hatten beschlossen, kochen und waschen zu lernen.

Richtig zur Sache geht es indes in den Verhandlungsrunden: »Es wird gerechnet, richtig viel«, sagt La‘or. So lernten die Jugendlichen zum ersten Mal, was das Leben vom Wohnen, übers Auto bis zum Urlaub auf Zypern tatsächlich kostet. Aber vor allem: Im letzten Gespräch vor einer Woche begann man, sich gegenseitig aufzurechnen, wer in einer Familie welche Dienstleistungen erbringt, und was diese wert sind. Das Ergebnis der Rechnung: »Es sind grundsätzlich die Mütter, die in einer Familie am wenigsten verdienen«, gesteht auch die Schülervertretung nun ein, hat aber schon einen neuen Gedanken: Als nächstes will man prüfen, wie das denn mit dem Elternunterhalt im Alter aussieht. »Das wird noch lange dauern«, sagt La‘or, während die Histadruth dabei ist, das Projekt auch anderen Schulen anzubieten.

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