Kein Pflaster auf die Weltverhältnisse

Katja Maurer von medico international über die Politisierung von Hilfe und den Kampf gegen die Wurzeln des Elends

  • Niklas Franzen
  • Lesedauer: 6 Min.

Medico international wurde vor 50 Jahren von einer Handvoll Aktivisten gegründet. Welche Motivation trieb sie damals an?

Die Gründung von medico international im Jahr 1968 hatte sicherlich mit dem Internationalismus der Studentenbewegung zu tun. Auslöser aber waren die Fernsehbilder von Hungernden in Biafra - das war eine »mediale« Katastrophe. Nigeria verhängte damals eine Hungerblockade über den 1967 als unabhängig erklärten westafrikanischen Staat. Diese Bilder brachten Medizinstudenten und Angestellte in Heilberufen zusammen, die handeln wollten. Erstmals rückte die Welt medial zusammen und das führte zu dem Impuls, schnell helfen zu wollen.

Katja Maurer
Katja Maurer ist Pressesprecherin von medico international. Die Organisation wurde 1968 in Frankfurt am Main gegründet. Medico unterstützt heute 120 Projekte in 30 Ländern. Im Jahr 1997 erhielt eine von der Organisation initiierte Kampagne den Friedensnobelpreis. 

Helfen wollen viele. Wie unterscheiden Sie sich von anderen Hilfsorganisationen?

Medico hat aus diesem ersten Impuls, der auch problematische Folgen hatte, gelernt. Damals wurden in Frankfurt bei Ärzten Medikamente gesammelt, die vor Ort mehr schadeten als nutzten, weil es weder eine ausreichende ärztlich Begleitung gab noch die Beipackzettel in die Landessprache übersetzt wurden. Einhergehend mit den politischen Debatte der damaligen Zeit wurde so aus dem Willen zu Helfen ein politischer Begriff von Hilfe, an dem medico bis heute festhält. Jeder Mensch hat in Notsituationen ein Anrecht auf Hilfe. Das ist keine Frage der Barmherzigkeit oder des Zufalls, sondern Frage einer globalen sozialen Infrastruktur. Deshalb sieht medico seine solidarischen Anstrengungen als Teil weltweiter emanzipatorischer Bemühungen. Daraus ist der Grundsatz entstanden: Hilfe verteidigen, kritisieren, überwinden. Heute wird Hilfe als Lösung verkauft. Aber Hilfe ist nur ein notdürftiges Pflaster auf die Weltverhältnisse, die die Hilfe erst nötig machen.

Haben Sie ein Beispiel?

Als ich 1998 bei medico angefangen habe, bin ich gleich mit einer dieser »medialen Katastrophen« konfrontiert worden: Der Hurrikan Mitch in Zentralamerika. Der löste eine riesige Welle internationaler Hilfe aus. Wie immer bei solchen Ereignissen geht es für viele Organisationen darum, möglichst schnell zu beweisen, dass sie handlungsfähig sind. Ob diese Hilfe dauerhaft hilft, ist häufig eine zweitrangige Frage. Medico hatte dazu eine andere Haltung: Partner vor Ort, einen Begriff vom Kontext, also der politischen Situation und ihren psychosozialen Auswirkungen auf die Menschen, die nun in Not gerieten. Es gab einen regelrechten Wettbewerb um die »Begünstigten«, was dazu führte, dass die Nicaraguaner in die Notunterkünfte niemanden mehr hinein ließen. Medico unterstützte damals Bauernfamilien, die Land besetzten, um sich eine neue Existenz aufzubauen. Sie waren keine Opfer mehr, sondern selbstbewusste Handelnde. Natürlich war das eine große Chance für eine erfolgreiche Kooperation. Das Dorf gibt es bis heute und ist ökonomisch sehr erfolgreich. Wir bewegten uns damals am Rand der Legalität und haben trotzdem dafür viele öffentliche Mittel bekommen.

Würden Sie sagen, dass die Institutionalisierung Ihrer Arbeit zu Widersprüchen mit den eigenen politischen Ansprüchen geführt hat?

Medico ist eine professionelle Organisation und bewegt sich in vielen Widersprüchen. Die auszuhalten ist oft ein schwieriger Spagat. Das geht nur, wenn man sich dieser Widersprüche auch bewusst ist. Wir bekommen Geld von öffentlichen Gebern. Aber damit einher geht ein immer höherer bürokratischer Aufwand, der so tut, als könne man soziales Handeln berechnen. Eine neoliberale Idee. Aber auch hier halten wir uns an Peter Brückner. Wir kritisieren den Neoliberalismus und alles, was damit einher geht im Verständnis von Hilfe, die immer unpolitischer wird, und beantragen trotzdem Geld. Außerdem ist unsere Öffentlichkeitsarbeit weit von dem entfernt, was heute üblich ist und die Spenderinnen und Spender manchmal dumm macht. Wir wollen immer über die Weltverhältnisse aufklären.

Plakate mit hungernden Kindern wird man von Ihnen also nicht sehen?

Nein, weil das paternalistische Gefühle mobilisiert. Das Kind als hilfloses Opfer ist ein guter Werbeträger, lässt aber die Ursachen für die Hungerkatastrophen außer Acht. Eine solche Werbestrategie beteiligt sich an der Reproduktion der Weltverhältnisse. Selbst visuell muss der emanzipatorische Gedanke sichtbar werden. Der Zweck heiligt die Mittel, ist ja nach der historischen Erfahrung der Linken kein Satz, den man sagen oder denken kann. Es geht darum, nicht mehr zu geben, sondern weniger zu stehlen, hat Jean Ziegler kürzlich gesagt. Das ist der Rahmen, in dem sich die Arbeit von medico bewegt.

Sie arbeiten schwerpunktmäßig im Globalen Süden. Wie finden Sie überhaupt passende Projektpartner?

Der große Vorteil ist, dass medico bereits seit 50 Jahren tätig ist und viele Organisationen kennt. So lernt man auch schnell neue Partnerinnen und Partner kennen. In Syrien war medico vor 2011 nicht aktiv, aber wir haben uns sehr stark mit dem arabischen Frühling beschäftigt. Eine Chance auf Emanzipation, zweifelsohne. Daraus ist schnell ein Netzwerk aus Partnern entstanden, die aus der Demokratiebewegung kommen und nun in dieser verheerenden Lage auch die Nothilfe der Bevölkerung organisieren.

Einer Ihrer Schwerpunkte ist Palästina, Sie haben dort sogar ein Büro. Wie prägen die innerdeutschen Debatten Ihre Arbeit?

Wir haben schon sehr lange Kontakte in die Region und immer versucht, uns mit unseren Projekten und Partnern jenseits der Grabenkämpfe zu bewegen. Medico hat Partner in Israel und in den palästinensischen Gebieten. Unsere Gesundheitspartner auf beiden Seiten kooperieren seit fast 20 Jahren. Aber sie alle einigt natürlich die Kritik an der Besatzung. Ich würde sagen, dass ist auch offizielle Politik der EU und der Bundesregierung. Insofern ist es problematisch, dass in der deutschen Debatte gern Kritik an der Besatzung mit Antisemitismus gleich gesetzt wird. Wir arbeiten sehr eng mit »Breaking the Silence« zusammen. Diese Organisation israelischer Soldaten, die Zeugnis über Menschenrechtsverletzungen der israelischen Armee ablegen, ist eine der mutigsten Verteidigerinnen Israels. Natürlich läuft in Deutschland eine kritische Haltung zur israelischen Besatzungspolitik schnell Gefahr, in ein haltloses Israel-Bashing auszuarten. Dessen sind wir uns bewusst und versuchen dafür eine angemessene Sprache zu finden. Aber vor Ort ist das ein asymmetrischer Konflikt und die Palästinenser sind darin die Verlierer. Das enthebt uns nicht der Aufgabe, auch die palästinensische Seite kritisch zu begleiten.

Wir befinden uns im Jubiläumsjahr von 1968. Für viele junge Aktivisten ist »Internationalismus« ein Begriff aus der Mottenkiste. Ist dieser heute überhaupt noch wichtig?

Internationalismus ist heute wichtiger als je zuvor. Es ist klar, dass Solidarität heute nur global zu verwirklichen ist. Wer glaubt, es geht ein soziales Deutschland inmitten einer globalen Verwüstung, der irrt und verteidigt die Privilegien einer ungerechten Weltordnung. Es muss daher darum gehen, eine globale Umverteilung herzustellen, die auch unsere Lebensweise miteinbezieht.

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