Geliebte «Hundesprache»

Zum Tod des russischen Deutschland-Experten Valentin Falin

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Dein Auftritt, Geschichte! Erzähl! Chruschtschow zum Beispiel. Wischte sich den Glatzenschweiß stets mit Papierserviette ab. Dann Breshnew. Dieses elend starre Massiv war «im Grunde ganz weich, er mochte mich, er sagte: Sehr angenehm, Sie bitten mich nie um etwas!» Und Gromyko? Besaß ein geniales Gedächtnis; aber als er angesichts des Verschleißes von todsterbenskranken Moskauer Weltmachtführern selber Sowjetherrscher zu werden drohte, da raunte es im Politbüro: Lieber gar keinen Generalsekretär als dieses «Eisenrohr»! Und Honecker? Der hörte sich zum 40. Jahrestag der DDR-Staats-Ruine die Gorbatschow-Rüffel an, daraufhin Stille in der hohen Runde, Stille, Stille, dann E. H.: Er sei kürzlich in Magnitogorsk gewesen, leere Regale, kein Zucker im Angebot - aus solch politischer Gegend solle er Ratschläge annehmen?!

Solcher Art waren die Erzählungen des Valentin Falin. Ein Egon Bahr des Kreml. Nie Repräsentant, aber Pfadfinder, politischer Neurologe, diplomatischer Psychologe. Nicht Macht, aber Geist. Der Leningrader, geboren 1926, war ein führender Kopf sowjetischer Deutschlandpolitik. Im Außenministerium, im diplomatischen Dienst, im ZK, in unmittelbarer Nähe der Kreml-Chefs, Botschafter in Bonn; bei Gromyko arbeitete er in der «2. Europäischen Abteilung», die u. a. verantwortlich war für Südafrika, Kanada, Australien. Europa? Bei imperialem Denken hat reale Geografie zu kuschen.

Er war klug. So einer kann bitter werden, wenn er sich ins Joch des Jahrhunderts spannt. Von Lebensglück könne man sprechen, so zitierte er gern, wenn ein Mensch Anfang und Abschluss seines Daseins zu verbinden vermag. Ihm selber sei das nicht gelungen; er habe von früh an für Vernunft und Gerechtigkeit kämpfen wollen, aber «diese jetzige Welt der Gewalt» sei von seinem Lebensziel entfernter denn je. Das Kommunisten-Mühen, vergeblich vielleicht von Beginn an. «Die Oktoberrevolution begann wie eine Tragödie und nahm Abschied wie eine Farce.»

Zwei Drittel seiner Verwandtschaft verlor er in Hitlers Krieg. Deutsch lernen? «Zunächst war ich entschlossen, diese Hundesprache nicht zu bellen.» Sein Geschichtslehrer stimmte ihn um: «Du musst die Sprache des Feindes beherrschen.» Die Konsequenz? «Ich wollte sie erkennen, die Deutschen. Wer sind sie? Ich wollte Unfassliches begreifen: wie eine Kulturnation so tief ins Böse fallen konnte.» Dies bewog ihn, sich ins lebenslange Abenteuer Deutschland zu stürzen.

Der aufragende, feingliedrige Mann mit der hohen singenden Stimme und den manchmal geschlossen wirkenden Augen trug oft einen roten Westover unterm Jackett - war die Farbe Ironie oder Trotz? Ansonsten war alles an ihm souveränste Unauffälligkeit. Stil benötigt keine Extras. Der feinnervige Großrusse unter den Kommunisten, Aristokrat unter den Funktionären, Gebildeter unter den Apparatschiks. Als käme er von Tschechow und sei von Schatro weitergedichtet worden - immer weiter hinein in die Müdigkeit. Was den Menschen erschöpft, sind Fortschrittsreligion und die Umgangsart in einer Allmachtspartei.

Worin besteht das Ziel der Diplomatie? «Dass die Wölfe satt werden und die Schafe unversehrt bleiben.» Ein Rezept für viele kleine Frieden - und Verweis darauf, dass der große Frieden eine Utopie bleiben muss. Dass man Falin des Öfteren ab- und umsetzte, wegen seiner speziellen Art, in wichtigen Momenten wissend, wählerisch und widerborstig zu sein («ich denke laut») - dies widerfuhr auch anderen. Aber eines Tages bediente man, zur Abschiebung, gezielt sein ästhetisches Niveau, bot ihm den Posten des Eremitage-Direktors in Leningrad an. Geträumt von dieser Funktion hatte Falin oft genug. Ein Leben bei Kunstwerken! Aber solch Ausstieg ins Schöne geht nicht mehr, wenn du von Weltpolitik infiziert wurdest. In die Partei war er relativ spät eingetreten, erst nach Stalins Tod. «Verwandte von mir waren als ›Volksfeinde‹ für immer verschwunden, und niemand durfte darüber reden.»

Wahrlich, er konnte erzählen. Etwa von Versuchen der Sowjets bis in die frühen fünfziger Jahre, die Einheit Deutschlands zu erreichen, «Stalin sagte: ›Keine sozialistischen Experimente in der sowjetischen Zone!‹» Adenauer blockierte das Einheitsstreben, Ulbricht war «auch nicht besonders glücklich». Dann die sowjetischen und US-Panzer am Checkpoint Charlie in Berlin, 1961, «vom Weltkrieg trennten uns achtzig Meter». Dann die sowjetischen Raketen auf Kuba - die USA drohten mit Angriff, wussten aber nicht, dass Moskaus Raketen bereits mit Atomsprengköpfen bestückt worden waren. Die Zeit drängte; eine Information per Telegramm würde zu lang dauern, wegen der umständlichen Verschlüsselung und Entschlüsselung - also wurde das Hochgeheime (Falin saß neben dem Mann am Mikrofon) ganz offen im Rundfunk mitgeteilt! Ätherwellen als Friedensretter?

Nie in seinem Leben trank er ein Glas Wodka - und als eine hochrangige heimatliche, betrunkene Delegation nach Bonn kam, ließ er die besoffenen Genossen in einen wortwörtlichen Rück-Zug verfrachten, erst hinter Frankfurt an der Oder erwachten die und wussten nicht, wie ihnen geschehen war. Der Russe in Deutschland, der in Tostedt lebte, südwestlich von Hamburg, wohin er nach dem Verbot der KPdSU emigriert war. Wie er sagte: «in die Reflexion». Großartige Ortsangabe. Und was reflektierte er? Dass Stalin «ein größerer Antikommunist als Hitler» gewesen sei, und: Der Kalte Krieg habe die Kommunisten leider in ihrer Unfähigkeit gefördert, «in feinen Schattierungen zu denken und zu handeln». Und dabei möge ihn, den Praktiker, «bitte keiner darüber belehren, dass die Kommunisten nie nur ein Feindbild hatten, sondern auch Feinde.»

Zu Zeiten von Glasnost und Perestroika ist Valentin Falin nicht glücklicher geworden. Mit Gorbatschow wurde «der Stalinismus nicht a priori ausgeschaltet». Man könne nicht mit einer Hand den Totalitarismus abschaffen und mit der anderen einen eigenen autoritären Führungsstil behaupten.« Unbeschränkte Macht habe auch Gorbatschow verdorben - »politisch, moralisch, ideell«. Das kam tief aus einem verwundeten Herzen.

Falins Platz in der Geschichte? »Ich habe keinen Platz zu beanspruchen. Tamerlan ließ auf die Pforte seines Mausoleums schreiben: ›Glücklich der Mensch, der diese Welt verlässt, bevor die Welt auf ihn verzichtet.‹« Zu den »größten Geschenken« seines politischen Lebens gehörten zwei Karamel-Bonbons, die ihm 1988 ein Arbeiter in der Moskauer Metro in die Hand drückte. War die Entfernung der Elite zur »führenden Klasse« schon so groß, dass bereits eine kleine überbrückende Süßigkeit Erschütterung auslösen konnte? Eine gültige Antwort, was die Deutschen zu Hauptbarbaren des 20. Jahrhundert werden ließ, »habe ich nicht gefunden«.

Am Donnerstag ist Valentin Falin im Alter von 91 Jahren in Moskau gestorben.

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