Ganz normal verrückt

Der Schwank »Pension Schöller« am Theater RambaZamba: Hauptsache orgiastisch

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 5 Min.

Draußen klirrt die Kälte, drinnen gibt es erst mal Schnaps für alle. Der riecht nach Pfefferminz, geht aber trotz offensichtlicher Zuschauerbestechung als Anti-Erkältungsmittel durch. Wir sind auf der Probebühne des RambaZamba-Theaters, wir sind in der »Pension Schöller« von Wilhelm Jacoby und Carl Laufs. Ein eher berüchtigtes Gründerzeitstück, auch »Schwank« genannt, das 1890 ein steiler Bühnenerfolg wurde und es in bestimmten Kreisen auch blieb - wie in der Wirtschaftswunderzeit-West und nach der Wiedervereinigung, hundert Jahre nach der Uraufführung.

»Pension Schöller« provoziert mit Biedersinn die einen und entzückt die anderen, aber wenn man das Stück konsequent gegen den Spießerwitz inszeniert, dann entfaltet es durchaus eine beträchtliche anarchistische Wucht. Frank Castorfs »Pension Schöller« an der Volksbühne der 90er Jahre war so eine aberwitzige Zotenschlacht gegen das anrückende Westberliner Establishment. Am Kartoffelsalatsperrfeuer prallten dann sämtliche Nachwendesprüche von den wundersamen Selbstheilungskräften des Marktes ab. All die brav-biederen Demokratiegouvernanten des freien Westens erlebten in der »Pension Schöller«, was Ästhetik des Widerstands auch bedeutet: im Zweifel eine Torte im Gesicht.

Der ultimative Schlusspunkt unter hochtrabend geführten Diskursen, letztes Mittel geistiger Notwehr. Wie blödsinnig sind die verbal geölten Wahrheitsverkünder inzwischen - und was wäre da naheliegender, als mittels Blödsinn den Havariefall auszulösen, als einen Augenblick unerwarteter Wahrheit?

Der Inhalt von »Pension Schöller«: nicht viel mehr als eine Abfolge geschmackloser Sprüche. Neffe Klapproth, der Geld braucht, lotst seinen Onkel aus der Provinz in diese Pension - angeblich handelt es sich in Wahrheit um eine Irrenanstalt, aber das dürfe niemand wissen, am wenigsten die Gäste, äh, Insassen. Für die Gründung einer solchen Anstalt hatte er den Onkel um einen beträchtlichen Kredit gebeten, und nun kommt dieser Pedant doch tatsächlich nach Berlin und will sich die vorgebliche Investitionsgelegenheit mit eigenen Augen anschauen. Also muss man ihm auf die Schnelle etwas Überzeugendes bieten. Das Erstaunliche für alle Beteiligten: Das geht einfacher als gedacht. Der Onkel findet die Anstalt »fantastisch getarnt«. Auf so eine Idee müsse man erst mal kommen.

Irre sind bekanntlich überall, vor allem da, wo sie im Namen von Ordnung und Moral auftreten. Das ist völlig normal. Wem jedoch das Etikett »verrückt« anhängt, der hat im bürgerlichen Sinne bereits verloren, im außerbürgerlichen gewinnt er allerdings ein beträchtliches Maß an Freiheit. Diesen Abstand zwischen den Welten galt es für Regisseur Jacob Höhne neu zu vermessen.

»Pension Schöller«: ein groteskes Tableau, angesiedelt in der schalen Welt kleiner Freuden. Weiße Plastikstühle unter einer Discokugel, daneben eine Stange, falls jemand spontan mittels Striptease etwas zur Unterhaltung beitragen will (immer die gleichen, also die falschen). Eine Dusche steht daneben - und wird reichlich frequentiert. Und so schieben sich hier anfangs die müden Paare wie in »Nur Pferden gibt man den Gnadenschuss« über jene Fläche, um die die Zuschauer herumsitzen. Leo Solter (Sohn von Regisseur Friedo Solter) macht die Musik: deutscher Schlager rund um »Aber bitte mit Sahne«: »So viel Gefühl hatten wir hier beinahe noch nie.« Die gepflegte Langeweile, von Gemütsschmiere in Bewegung gehalten, bedient sich trotz Entree-Schnapses eines antiquierten Namens: Tanztee.

Das RambaZamba holt zu den behinderten Schauspielern des Ensembles auch nichtbehinderte Gäste, Diana Ebert darunter. Sie ist die Tochter des Pensionswirts Schöller, die trotz unüberhörbaren Sprachfehlers unbedingt Schauspielerin werden will. Ach wären doch alle »l«s im Alphabet von vornherein »n«s, niemand merkte es! So aber wird aus »Leid« purer »Neid«, auch »Wallensteins Nager« werfen einen neues Licht auf Schiller alias Schinner. Vielleicht hätte man diese Szenerie noch mehr zuspitzen sollen, so aber wirkt das ganze Buchstabenverdrehen so bemüht wie ein Faschingswitz.

»Pension Schöller«: Prototyp der konfektionierten Comedy-Überproduktion des Fernsehens von heute, das oft wie eine Resterampe schlechter Witze wirkt. Mancher notorisch leere Gagschreiber von heute jedoch gäbe alles für einen Pointengeistesblitz wie diesen: »Wie komme ich am schnellsten ins Naturkundemuseum?« - »Am besten, Sie lassen sich ausstopfen.«

Es sind die auf verschiedene Weise geistig behinderten Ensemblemitglieder, die in »Pension Schöller« den Freiraum entdecken und energisch besetzen. Pascal Kunze, zwischen Genie und Wahn als Klapproth senior, den es von Kyritz an der Knatter hierher auf Exkursion ins Großstadtrevier verschlug, Jonas Sippel als mühsam an der Manipulation aller arbeitende Klapproth junior, Franziska Kleinert als notorisch Unflätiges brüllende Schriftstellerin Sibylle Zwerg, Hans-Harald Janke als Major a.D., der sich immer wieder danach erkundigt, wer jetzt denn Reichkanzler sei, und »Heil Hitler!« schreit. Daraufhin wird er von Schöllers Tochter, die in an diesem traurigen Ort alle Arbeit, einschließlich die der Animation der männlichen Gäste, zu verrichten hat, jedes mal zaghaft belehrt, dass man »das nicht mehr sagt«. Aha, aber das interessiert die wohlsituierten Gäste, die sich nun doch mehr und mehr als Insassen outen, nur mäßig.

Das ist in dem Maße lustig, wie es auch makaber ist. Selber schuld, wer sich vom Etikett »Lustspiel« in die Irre führen lässt. Denn »Pension Schöller« bleibt ein kleinbürgerliches Trauerspiel - der Verwandlung von Kunst in Kitsch, von wertvoll in billig, von echt in unecht. Nietzsches Entwertung aller Werte? Aber ganz so kulturpessimistisch will es das höchst vitale RambaZamba-Ensemble nicht sehen. Hier feiert es sich vor allem selbst, mit allen Mitteln, auch denen des schlechten Geschmacks, Hauptsache orgiastisch.

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