Wir im Vorkrieg

»Munin oder Chaos im Kopf« - der neue Roman von Monika Maron

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Die junge Frau sagt, sie müsse zurück in den Krieg. Der Krieg ist - ein Essay. Eine Festschrift für eine westfälische Kleinstadt. Zur Rede steht der Dreißigjährige Krieg. Alles so fern. Kalte Archäologie. Kann daraus brennende Aktualität werden? Eine »zarte Nervenfaser aus jener Zeit, über die sich ein Signal senden ließ an unser Nervengestränge« - das ist es, was die Journalistin Mina Wolf schreibend hofft und sucht.

Wenn sie denn zum Schreiben kommt - denn ihre Nerven sind auf andere, wahrlich irre Art angegriffen. Eine Sängerin nebenan malträtiert vom Balkon aus unablässig, mit großer Lust am Untalent, die gesamte kleine Straße. Und verwandelt das überschaubare Areal binnen kurzer Zeit in einen brodelnden Raum aus Misstrauen, Hass, strafgierigem Geifer. Ein Mensch, der »gern und falsch singt« - und schon bricht bissiger Entfremdungsgeist aus; Verhaltenskälte zerfrostet mehr und mehr die bisher so beruhigte Atmosphäre. Plötzlich wird offensichtlich, dass Alt- und Neubauten nicht nur nebeneinander, sondern gegeneinander stehen, aus Nachbarschaften werden Feindschaften, der Kampf gegen die Sängerin gerät zum »Stellvertreterkrieg der Unzufriedenen«.

Die aufgestörte Journalistin erlebt, wie aus gemeinsamer Protestinitiative gegen eine belastende, aber doch harmlose »Verrückte« unversöhnliche soziale, politische Gegensätze wuchern. Furchteinflößend, wie der banale Sängerin-Streit ausartet: Es werden in der so stillen Straße des Romans Autoreifen aufgeschlitzt, Deutschlandfahnen hängen heraus, Drohbriefe kursieren, Fensterscheiben splittern. Einer fragt, wer sich eigentlich noch um jene kümmere, die Steuern und Mieten zahlen - und fügt drohend hinzu, er freue sich schon auf die nächste Wahl. Wann sich in diesem Land etwas ändere? Es gibt nur eine Hoffnung: »... dass alles ganz schnell schlimmer wird.« Der kriminelle Widerstandsreflex: aufheizen, zündeln, zerstören - bis der Staat zurückschlägt und damit jenes Feindbild rechtfertigt, das man so dringend für die Selbststilisierung braucht.

Bitterste Hochrechnung bietet sich an - denn lauert hinter den Aggressionsschüben im Wohnviertel nicht das, was die Welt generell prägt? Wenn Mina in ihrem »hochgestapelten Expertentum« in die Tiefen des Dreißigjährigen Krieges taucht, erschrickt sie plötzlich über die Bedrängungen aus der Historie: Leben wir nicht auch in einer Zeit, da die »Vorboten ferngeglaubter Fehden« durch den Alltag schleichen? Überliefert der Dreißigjährige Krieg nicht Muster, die sehr gegenwärtig sind? Nämlich diese »kreuz und quer laufenden Fronten und Interessen, die religiös verbrämten Herrschaftskämpfe, wechselnde und undurchschaubare Bündnisse«. Mina fühlt, wie sich die Religion »ins alltägliche Leben geschlichen und dann darin breitgemacht« hat. Wie in deren Namen »wieder Krieg geführt wurde, nicht nur auf ihren angestammten Territorien in Irak oder in Syrien, sondern bei uns, auf unseren Straßen und Plätzen«. Wie unverhohlen uns - der Name Houellebecq wird fallen - »unsere Eroberung angekündigt wurde, mit Waffen und Geburtenraten«.

In der Gestalt der Mina Wolf und im Geflecht der skizzierten Kampflinien lebt auf, womit Monika Maron bereits in anderen Texten polarisiert hatte. Den deutschen Parteien warf sie Ignoranz der Tatsache vor, dass einige der unangenehmen Rechten »Vertreter der eigenen abtrünnigen Wählerschaft« seien. Flüchtlinge? Europa könne »nur um den Preis seines Untergangs alle aufnehmen«, aber sie abzuweisen, fordere dem Kontinent einen ebenso hohen Preis ab - den »seines politisch-moralischen Selbstverständnisses«. Das genau ist jene zerrende Spannung, die zuerst all jene verschleißt, die noch immer ihren alten Phrasenpsalm singen - und meinen: Um die Argumente von Reaktionären zu widerlegen, genüge der Hinweis, dass es reaktionäre Argumente seien. Ach, es bleibt dabei: Ideologie stärkt zwar den Willen, schwächt aber enorm den Verstand.

Die Schriftstellerin sieht auf diesem Konfliktfeld ihr Korn wachsen: Wie kann der Mensch bewusster, willentlicher leben, ohne Opfer seiner instrumentell so verführbaren Vernunft zu werden? Wie wird Güte erzählbar, ohne gleich eine gute Welt zu lügen? Und ist ein »böser Blick« (den man Maron immer wieder attestiert), ist also Schonungslosigkeit nicht auch eine Voraussetzung dafür, dass Gutes entsteht, sich hält?

Als einzige Gesprächspartnerin bleibt der Journalistin eine einfüßige Krähe, der sie nach einem der Raben Odins den Namen Munin gibt. Mina Wolf spricht mit dem Vogel so selbstverständlich, wie Kinder mit Tieren sprechen. Grandios stolperfrei verbindet Monika Maron die Realität mit den mystischen Dialogen, sie knüpft damit an ihre Essay-Erzählung »Krähengekrächz« an, dies sehr besondere Tier als Kronzeugin: »Kreisend überm Blutrausch der Geschichte. Mitwisser seither unseres historischen, ja genetischen Versagens.« Eines Versagens, das die Festschrift-Autorin in tiefe Verwirrnis stürzt. Denn in Geschichte, diesem Umpflügen der Zeiten, sieht sie trotz allen Fortschritts illusionslos, was sie selber ist, eingemeindet in die Masse Mensch: »nichts als eines dieser vor mir gestorbenen und nach mir sterbenden namenlosen Wesen, die wie Tiere aufeinander losgingen, wenn das Futter knapp wurde«.

Krähe Munin, ihre Käse- und Wurstscheiben pickend, ist die Botschafterin niederdrückender Wahrheit: »Erst erfindet ihr euch einen Gott, dann glaubt ihr nicht an ihn.« Warum wir immer wieder, in alter Dumpfheit, in Katastrophen stolpern? »Weil ihr immer das Falsche lernt ... Ihr wart erschrocken über eure Missetaten und habt euch lebenslange Sühne geschworen. Seitdem werft ihr euch schützend über alles, was ihr für schwach und hilflos haltet ... ihr lasst Todgeweihte nicht mehr sterben, sondern lieber jahrelang faulend in den Betten siechen.« Ja, so vieles ist falsch: Man kann jeden Menschen in berechtigten Verruf bringen, indem man ihm irgend eine Tugend unterstellt - denn die ist meistens angeschafft, ist Übertünchung und Kappenspiel. Munin kennt uns: »Der Tod darf nicht sein, Unglück darf nicht sein, euer Gesicht kommt euch falsch vor.« Daher die Verdrängung, der Overkill der Glücksgier, die Moral der Masken.

Mit raffinierter Leichtigkeit erzählt sich das. Keine Nahtstellen zwischen der Banalität des Straßengeschehens, der Weltweite, den historischen Assoziationen und dem Märchen der Krähengespräche. Alles fließt und fließt und fängt und spinnt dich faszinierend ein. Der Roman zeichnet das Bild einer verstörten Intellektuellen zwischen den trivialen Nöten ihres Alltags und den bedrängenden Strömen ihres Bewusstseins. Die Zeitungen widern Mina an: dieses Elend der Besserwisserei, was an Begriffen wie Volk, Heimat, Identität links oder rechts sei; dieses Rezeptgetöse der Kommentatoren; diese zurechtweisenden Gebets- und Gebotsmühlen; zu allem Überfluss diese »genderspezifische Sprachverhunzung«. Wo der Mensch meint, Menschen zur Emanzipation erziehen zu müssen, indem er so plakativ und theorieversessen wie möglich an ihrem Leben vorbeischwafelt, dort gibt er just eines auf: den Geist der Emanzipation.

Eine geringe Verschiebung der Balancen, und der Terror feiert seine Freiheit. Daher durchzittert diesen verblüffenden Roman unverhohlen Zukunftsangst - die sich aber verzweifelt gegen drohende Gleichgültigkeiten wehrt. Und freilich offenbart Monika Maron mit dem Fallbeispiel der exzentrischen Sängerin auch einen schön absurden Witz, zudem lässt sie ihr Buch aufreizend lakonisch enden. Peinigend das Chaos im Kopf der Hauptgestalt, ausgelöst vom lädierten Zustand der demokratischen Verhältnisse - Minas Freundin Rosa aber bejaht es freudig. Denn »nur das Provisorische fördert die Phantasie, das Fertige verlangt nur Bewunderung«. Darum würden Kinder die fertigen Türme im Sandkasten immer wieder umstürzen. Umsturz, eine Sandkastenoption. Radikaler könnte Rettung nicht sein.

Monika Maron: Munin oder Chaos im Kopf. S. Fischer, 224 S., geb., 20 €. Ein MDR-Gespräch mit der Autorin findet an diesem Freitag, 10.30 Uhr, auf der Leipziger Buchmesse statt (Stand 17, Glashalle).

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