Gedränge am Geschichtsbüfett

Was 1848, 1918 und 1968 verbindet - und warum das plötzlich alle wollen.

  • Velten Schäfer
  • Lesedauer: 7 Min.

Die Sinnkochtöpfe brodeln schon: auf ins Supergedenkjahr 2018! Immerhin steht mit »1918« und »1968« ein Doppeljubiläum ins Haus. Und »1848« gibt es quasi obendrauf, wenn auch 170 nicht ganz so rund ist wie 50 oder 100: Eine 175 wäre schöner gewesen, doch gehören Jahreszahlen nun mal zu derjenigen Sorte von historischen Daten, die sich auch die ausgesuchteste Erinnerungspolitik nicht zurechthobeln kann.

Aber wohlan: Was »verbindet« nun 1848, 1918 und 1968? Einen Aufschlag macht derzeit das Düsseldorfer Heinrich-Heine-Institut mit einer Ausstellung. Im Münchner Residenztheater findet seit Januar eine mit der dortigen Uni erarbeitete Lesereihe statt, die Schlüsseltexte zu diesen Daten vorstellen soll. Die »Zeit« nahm die »drei Revolutionen« jüngst zum Anlass, die »Zukunft der Linken« zu examinieren (und Sahra Wagenknecht dabei ziemlich freihändig einen reaktionären Nationalbolschewismus anzudichten) - und so weiter, mehr wird folgen.

Dabei liegt natürlich die Art der Verbindungen in den Augen der Betrachtenden. Im Grunde bieten sich dabei wohl drei Deutungskorridore an: eine staatstragend-liberale, eine rechtsnostalgische und eine linke, skeptische Lesart.

Der ersten Version zufolge brachte der Revolutionsversuch von 1848 erstmals den Parlamentarismus auf die Bühne der deutschen Geschichte. Dieser setzte sich dann nach einer gewissen Inkubationszeit anno 1918 - aus dieser Perspektive: gottseidank! - nicht nur gegen den Kaiser, sondern auch den Kommunismus durch. Dieser zunächst nur politischen Demokratisierung, die eine Republik ohne Republikaner geboren habe, folgte sodann (nach einem gewissen Intermezzo, das jahreszahlbedingt heuer nicht genauer berücksichtigt werden kann) mit der Studierendenbewegung von 1968 die kulturelle Demokratisierung.

Bezüglich derselben gibt es im staatstragend-liberalen Erinnern im Grunde zwei Nuancen: Wer sich, wie bestimmte Teile der Grünen, gelegentlich noch gerne ein wenig im Karma von Kif und Kommune wiegt, wird unterstreichen, dass jene innere Demokratisierung anno 1968 auch das eigentliche Anliegen gewesen sei - abgesehen von einigen lässlichen Jugendsünden. Etwas weiter in der Mitte wird man hingegen zugestehen, dass »68« gewisse demokratisierende und liberalisierende Impulse gezeitigt habe. Dieser Beitrag zum »langen Weg nach Westen« sei aber als nicht-intendierte Folge eines gefährlichen Treibens anarcho-totalitärer Irrer anzusehen. Über das, was hinten rauskommt, sind sich die beiden Variationen der staatstragend-liberalen Erinnerungspolitik hingegen weitgehend einig: Im Grunde ist alles in deutscher Markenbutter.

Nicht nur das Endresultat dieser 170 Jahre sieht dagegen die rechtsnostalgische Erinnerung anders. Aus dieser Perspektive hebt man schon an 1848 mehr den »Nationalgedanken« denn den Parlamentarismus hervor. Mit 1918 verbinden sich aus dieser Perspektive vor allem Motive des Niedergangs. Man betrauert das vorläufige Ende eines deutschen Machtstaats - und macht den »ungerechten Frieden« von Versailles in letzter Instanz für jenes Intermezzo verantwortlich, das heuer nicht so recht auf den Gedenkplan passt. 1968 aber erscheint als Vollendung der »Katastrophe«: als Aktivierung eines nationalmasochistischen, linksgrün versifften Selbstmordprogramms, dessen »Schuldkult« das nationale Erwachen von 1848 vergessen mache und auf ein Finis Germaniae im Zeichen von Mullahs und Kopftüchern hinauslaufe.

Die linke und skeptische Perspektive teilt mit der rechtsnostalgischen immerhin das pessimistische Grundmotiv - auch wenn sie ansonsten gerade deren Gegenteil hervorhebt. Aus dieser Sicht verbindet 1848, 1918 und 1968 vor allem das Moment des Scheiterns: 1848 versagte die Bourgeoisie, die sich in der Folge verhängnisvoll mit der Krone gegen die Arbeiter verbündete, statt gemäß ihres historischen Auftrags eine bürgerliche Gesellschaft aufzurichten. 1918 traten dann die Sozialdemokraten diesem Bündnis gegen die Revolution bei und ließen auf die soziale Befreiung schießen, anstatt - zum Beispiel - wenigstens die semifeudale Junkerklasse gesellschaftlich zu entmachten: Nicht zuletzt dieser Umstand habe die deutsche Geschichte dann mehr oder minder auf jenen »Sonderweg« festgelegt, der zu jenem Intermezzo führte, dessen heuer aus Termingründen nicht gedacht werden kann.

Für 1968 aber gibt es aus dieser Sicht drei grundlegende Erinnerungsnuancen. Die erste beklagt ein unerfülltes Freiheitsversprechen, einen mutigen Aufbruch, der in Repression und herrschaftsförmiger Halbtoleranz erstickt worden sei. Eine zweite Nuance, die häufig in der Kultursoziologie vertreten wird, kritisiert die 68er-Revolte vom Ergebnis her und schließt sich der staatstragend-liberalen Perspektive mit umgekehrtem Vorzeichen an. So kann sie als politisch unreifer »Bürgerkinderkrieg« erscheinen oder als eine Bewegung von »Künstler-« statt »Sozialkritik«, die nolens volens einen Grundstein gelegt habe für die selbstausbeuterische Projekthaftigkeit, für die scheinbar flachen Hierarchien und für das Chefduzen im postmodernen Neoliberalismus. Aus dieser Pose lässt sich 1968 auch - Achtung: Wortspiel - als unfreiwillige Guerillamarketingkampagne für das deutsche Exportkapital etikettieren, die letzten Endes nur »Made in Germany« vom postfaschistischen Ruch befreit habe.

Unter dem Strich steht bei diesen beiden Variationen des links-skeptischen Blicks auf die dreifache Acht eine Haltung fortgesetzten Wundenleckens oder resignierten Achselzuckens. Doch sticht aus diesem Chor der Tristesse noch eine besonders düstere Stimmlage hervor, die wiederum in zwei Tonarten zerfällt.

Die eine resümiert, nach 170 Jahren gescheiterter Revolutionen sei das deutsche Normalsubjekt abgrundtief freiheitsfrustriert in seinem autoritären Charakter gefangen und stehe im »rassistischen Konsens« bereit, das Fremde zu lynchen. Der anderen Miserelesart zufolge ist das Kollektivsubjekt dieser 170-jährigen Versagensgeschichte noch immer nicht angekommen auf dem langen Marsch nach Westen. Stattdessen ist es mit einer »kulturrelativistischen Geschichtsvergessenheit« geschlagen, die es wie somnambul dazu führe, sich all jenen zu öffnen, die »Israel in Meer treiben« wollten - etwa jenen Mullahs und Kopftuchagentinnen, die oben bereits angesprochen wurden. Diese werden aus dieser Perspektive als Wiedergänger des anno 68 gerade nicht bewältigten, sondern letztlich auf ausgerechnet seine paradigmatische Opfergruppe projizierten Faschismus angesehen.

Nun zeigt sich besonders anhand der letztgenannten Tonalität, die im linksradikalen Strömungswesen oft etwas irreführend als »antideutsch« bezeichnet wird, dass es zwischen allen diesen Deutungen und Folgerungen im Detail zu Überschneidungen kommen kann. Und zwar auch zu solchen, die zunächst sehr überraschen mögen: Gelangt diese Lesart doch durch eine bestimmte Art der Radikalisierung der linken Sicht zu Positionen, die - wenn auch anders begründet und kulturell inkompatibel - nicht weit von solchen liegen, die sich auch aus dem rechtsnostalgischen Blickwinkel entwickeln lassen.

Zudem fehlen in dieser Auflistung spezifische Perspektiven wie etwa die DDR-bezogene, die bezüglich 1848 meist der liberal-staatstragenden Erinnerung zugeneigt ist, während sie sich für 1918 der linksradikal-skeptischen Lesart anschließt und das - osteuropäische - 1968 inzwischen wohl weit überwiegend als leichtfertig vertane Chance taxiert.

Auch lassen sich bei Belieben weitere »Wendepunkte der Weltgeschichte« hinzufügen, die mit einer Acht enden. In der Schweiz, die 1848 als ihren Geburtstag feiern kann, für 1918 aber passen muss, brachte das Boulevardblatt »Blick« jüngst 2018 ins Spiel: das Jahr, in dem Trump, Brexit und Putin den »Westen« scheitern lassen. Heinz Fischer, Ex-Präsident Österreichs, hat gerade ein Sachbuch mitverfasst, das neben 1938 - »Anschluss« Österreichs - 1978 thematisiert: China geht zum gelenkten Kapitalismus über und bricht zu neuer Weltgeltung auf. Vielleicht lassen sich, wie unlängst in der »Zeit« vorexerziert, noch 1618 und 1648 ansprechen - wenn man denn im Ausgang des 30-jährigen Krieges den Beginn des modernen Völkerrechtsgedankens erblicken will.

Belässt man es aber bei dem schon weit genug gespannten Bogen zwischen dem Sit-in in der Frankfurter Paulskirche und jenen in den Hörsälen Westberlins, dürfte die vorangestellte Typologie das Spektrum möglicher »Verbindungen« ausreichend abbilden: Voilà, bedienen Sie sich, das Büfett ist eröffnet im Café Histoire. Das Haus empfiehlt Menü Nummer drei ohne Konsens und Wiedergänger, aber tun Sie sich nur keinen Zwang an!

Als Extra aber setzen wir ein Dessertthema auf die Karte: die Frage nämlich, warum eigentlich 48, 18 und 68 gerade jetzt so dringend zusammengedacht werden müssen.

Die Erstdiagnose ist vergleichsweise harmlos und lautet auf Nachdurst: Nachdem bereits im Supergedenkjahr 2017 allenthalben die weitgehend faktenfreie These ausgeschenkt wurde, es gebe zwischen Luthers Plakatieraktion von 1517 und eben 1918 eine »Verbindung«, indem sich etwa laut »evangelisch.de« der »Mensch im reformatorischen Glauben« als »selbstbewusst, bildungshungrig und angesteckt mit Freiheit« darstelle, kann man jetzt nicht plötzlich Selters anbieten.

Die weitergehenden Symptome aber verweisen auf Sucht. Offenbar greift jüngst eine gewisse Leere um sich in den Köpfen und Bäuchen der Tischgesellschaft. Man hat sich nichts mehr zu sagen, man spricht in verschiedenen Dialekten nicht selten schlecht übereinander. Ungebetene Gäste sind erschienen, darunter auch solche mit Hausverbot, eben Schmarotzer, Fremde und Ausgestoßene. Längst schon wurden deswegen die Tische auseinandergerückt.

Ein allgemeines, ein eben verbindendes Gesprächsthema scheint sich da von selbst nicht mehr zu ergeben, schon gar nicht in der Gegenwart. Nun versuchen es diejenigen, die die Einladungen verschicken, mit Nostalgie. Es ist jetzt sehr viel Geschichtsgeist gefragt, und dieser möglichst hochprozentig.

Au revoir, die Damen und Herren. Wir sehen uns wieder im Supergedenkjahr 2019.

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