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Wir alle sind Emigranten

Das Theater unterm Dach zeigt eine Bühnenfassung des Romans »Kind aller Länder« von Irmgard Keun

  • Volker Trauth
  • Lesedauer: 4 Min.

»Eine schreibende Frau mit Humor. Hurra, wir haben ein Talent!« - das schrieb Kurt Tucholsky, nachdem er Texte von Irmgard Keun gelesen hatte. Noch mehr dürfte ihm imponiert haben, dass diese schreibende Frau die Nazis wegen Verbrennung ihrer Bücher beim Berliner Amtsgericht angezeigt hatte. Anfang der 30er Jahre war sie nach ihren Romanen »Gilgi, eine von uns« und »Das kunstseidene Mädchen« zur Bestsellerautorin aufgestiegen. In dem Roman »Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht mehr verkehren durften« wurde erstmals ein zehnjähriges Mädchen zur Heldin. Das wird während des Ersten Weltkriegs von der brutalen Lehrerin Mauser gemobbt und mit Kontaktverbot belegt. Ihr Vater bleibt als einziger Spielgefährte, und mit dem zusammen schreibt sie einen Brief an den Kaiser und fordert ihn auf, Frieden zu schließen.

Eine Zehnjährige steht auch im Zentrum des Romans »Kind aller Länder«. Kully (Friederike Pöschel) macht unfreiwillig Emigrationserfahrungen. Ihr Vater, ein eben noch erfolgreicher Schriftsteller, wird zusammen mit Frau und Kind von den Nazis vertrieben. Sie wird Zeugin der ebenso verzweifelten wie erfolglosen Suche des Vaters nach Aufträgen, Veröffentlichungen und Honoraren. Das Leben in den wechselnden Hotels wird ungemütlich. »In den Hotels sind wir nicht mehr gern gesehen«, erkennt das Mädchen.

Der Vater lässt Frau und Kind im Hotel zurück. Die Tochter muss lügen, um einem Verleger einen Vorschuss für den Vater abzutrotzen. Die Mutter wird krank. Die Lage wird immer aussichtsloser. Zum Lichtblick werden ein Visum und eine Reise nach Amerika, wo ein Geschäft mit »Metro Goldwyn Mayer« in Aussicht steht. Vater und Tochter stechen allein in See. Die kranke und schwangere Mutter bleibt zurück. Am Ende trifft sich die kleine Familie in Amsterdam wieder. Die Tochter will ein Buch über das Leben von Emigranten schreiben.

Was an dem Roman fasziniert, ist der leichte, zwischen Depression und neu aufkeimender Hoffnung pendelnde Erzählton. Kullys Texte verbinden kindlichen Trotz mit frühreifer Weltsicht, hilfloses Verstummen mit hemmungsloser Vorfreude. Zu ihrem Leben in den Hotels sagt sie mit lakonischer Härte: »Wir warten auf unseren Vater - das ist unser Leben.«

Angesichts der Erfolglosigkeit des Vaters kommt ihr ein Vergleich in den Sinn: »Die unbekannten Schriftsteller müssen in der Dachkammer leben, die bekannten Schriftsteller ziehen ins Hollywoodschloss.« Ihre unabweisbare Zukunftsangst wird beflügelt vom hysterischen Brüllen Hitlers, das aus dem Radio dringt. Sich überschlagende Ereignisse wie die Vorbeifahrt der Königin werden in einem Rausch vorbeifliegender Bilder beschrieben. Unbeirrt bleibt ihre voraussetzungslose Lebenszuversicht: »Wir brauchen nicht wie die Erwachsenen Geld, um lustig zu sein.«

Regisseurin Anja Panse hat zusammen mit ihrer Hauptdarstellerin Friederike Pöschel eine aufs Wesentliche zielende Fassung erarbeitet. Episodenfiguren wie der Liftmann und Lebedamen wie die »Frau mit dem Vogelnest auf dem Kopf« sind gestrichen. Ganze Episoden wie die Reise zur Großmutter ins italienische Bordighera bleiben unerwähnt.

Die etwa 30-jährige, zurückblickende Schriftstellerin und die unmittelbar erlebende zehnjährige Kully verschmelzen zu einer Figur. Ihre Tagebuchaufzeichnungen von damals lesend, nähert sich die Ältere ganz allmählich dem Mädchen an.

Staunend erlebt sie alles noch einmal. Aus dem Koffer holt sie die Requisiten ihrer Reisen. Aus einer handtellergroßen Muschel hört sie das Rauschen der Meere. Dieses Rauschen beflügelt sie zur tänzerischen Darstellung des Möwenflugs mit gleichzeitigem Vogelschrei. Die aus dem Koffer geholte Puppe Pauline wird zur Vertrauten, zum Widerpart und zur Zeitzeugin. Ihr beweist das Mädchen ihre neu gewonnenen Sprachkenntnisse und ihr steckt sie bei der Ankunft in New York einen Kaugummi in den Mund. Das Bemühen um vielgestaltige Annäherung an den Text ist unübersehbar. Der Brief des Vaters wird von einer dritten Stimme vorgelesen, Empfangsmusik begrüßt Vater und Tochter im Hafen, und aus dem Zimmerradio hören wir den brüllenden Hitler.

Die Täuschung des Verlegers durch Kully wird in einer - allerdings viel zu breit ausgespielten - Zweierszene dargestellt. Im jähen Wechsel sitzen nacheinander der Verleger und Kully mit figurenspezifischer Körperhaltung auf dem Sofa und reden aufeinander ein. Immer wieder das Bemühen um den überraschenden Bruch: Kully tanzt mit ungehemmter Freude die Begeisterung über den neuen Herd und die damit verbundenen leckeren Speisen aus, und im nächsten Moment hören wir die Schiffssirene, die die Fahrt nach Amerika und das Zurückbleiben der Mutter ankündigt.

Losgelöst von der Welt, umschwebt die Darstellerin einem geheimnisvollen Vogel gleich die Bühne, um im nächsten Moment mit der traurigen Erkenntnis »Wir alle sind Emigranten« zusammenzusinken. Am Ende sehen wir Kully an der Schreibmaschine sitzen und mit unverhohlenem Stolz ihren Roman über das Emigrantenleben ankündigen. Das ist von unverstellter Glaubhaftigkeit. In dieser Glaubhaftigkeit liegt der Reiz der Aufführung, weniger in Perfektion und Raffinesse des darstellerischen Ausdrucks.

Nächste Vorstellungen: 7. und 8. April

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