- Berlin
- Mieter-Proteste in Berlin
Eine starke Mitte-links-Bewegung
Die Mietenproteste werden weiter wachsen, sind sich Sozialwissenschaftler sicher
25.000 Teilnehmer zählten die Organisatoren bei der großen Mietenprotest-Demo, die am vergangenen Samstag durch die Hauptstadt zog. »Es war wirklich überwältigend«, sagt Susanna Raab auch Tage später noch. Sie engagiert sich im »Mieterprotest im Kosmosviertel« am südöstlichen Stadtrand. Beeindruckt hatte sie nicht nur die schiere Anzahl der Demonstranten, sondern auch die Vielfalt. Neben Mieterinitiativen seien auch Sozialverbände und Gewerkschaften vertreten gewesen. »Sogar beide großen Mietervereine waren da, ich weiß gar nicht ob es das jemals schon gab«, berichtet sie. Auch Senioren, viele Familien mit Kindern und selbstorganisierte Flüchtlinge seien zu sehen gewesen. Viele Teilnehmer seien das erste Mal auf so einer großen Demonstration gewesen. »Der große Widerhall in der Gesellschaft macht mir Mut«, erklärt Raab.
So geht es vielen Aktivisten. »Unglaublich beeindruckend« sei die Demo gewesen, heißt es bei der Initiative »Kiezladen Friedel 54«. »Wir können ruhig selbstbewusster gegen die Dinge vorgehen, die in Berlin schief laufen«, so die Neuköllner Aktivisten weiter. »Wir müssen weitermachen«, ist auch für Raab das Signal, das von der Demo ausging. Sie selbst wird auch bei der »Recht auf Stadt«-Demo diesen Freitag in Leipzig teilnehmen.
»Man sieht, dass sich in den letzten Jahren etwas getan hat«, sagt der Soziologe David Scheller, der sich im Institut für Protest- und Bewegungsforschung (ipb) engagiert. »Seit der letzten großen Mietendemo im Jahr 2011 hat sich die Betroffenheit ausgedehnt, sodass neue Akteure auftauchen«, so der Forscher. Inzwischen sei auch der Mittelstand immer mehr von Verdrängung betroffen.
Vor sechseinhalb Jahren, im September 2011, protestierten kurz vor der Abgeordnetenhauswahl rund 6000 Menschen gegen die steigenden Mieten. Damals waren Vertreter von Parteien explizit unerwünscht gewesen. Diesmal sollten Parteifahnen zwar zu Hause gelassen werden, Politiker vor allem von LINKEN und Grünen waren jedoch zahlreich gekommen. »Durchaus spannend« sei der rot-rot-grüne Senat in der Hauptstadt für die Mieterbelange, findet Scheller. Mit Stadtentwicklungen von unten wie beim Kreuzberger Dragonerareal oder dem Haus der Statistik könnten nun Projekte in einer Form realisiert werden, wie sie unter den Vorgängerregierungen noch undenkbar gewesen seien.
»Der jetzige Senat bemüht sich, die Forderungen der Initiativen zu berücksichtigen«, sagt Scheller. Das stünde im deutlichen Gegensatz zur »Delegitimierung des Protests und des breiten Bündnisses« rund um das Volksbegehren gegen die geplante Bebauung von Teilflächen des Tempelhofer Felds unter dem damaligen Stadtentwicklungssenator Michael Müller (SPD), inzwischen bekanntlich Regierender Bürgermeister.
Dass über 200 Initiativen an der Mietendemo teilgenommen haben, sei ein Indiz, dass die Betroffenheit steige, erklärt der Forscher. »Wir werden noch mehr sehen«, ist er überzeugt, denn die Wohnungskrise in der Hauptstadt werde nicht so schnell nachlassen. Auch erweitere sich das Themenspektrum, wenn es, wie bei der Initiative »Bizim Kiez« in Kreuzberg auch um die Verdrängung von Kleingewerbe oder sozialer Infrastruktur gehe. Auch das Wiederaufleben von Kiezversammlungen ist für ihn so ein Signal. »Das sind Momente, wo ganz viel passieren kann, weil sich Menschen begegnen, die sonst weniger miteinander zu tun haben«, sagt Scheller.
»Die Mietenbewegung gewinnt gerade an Kraft, weil sich verschiedene Stadtteilgruppen und autonome Aktivist*innen verstärkt zusammenschließen«, erklärt die Politologin Jenny Künkel, die ebenfalls ipb-Mitglied ist. Das breite Spektrum der Aktivisten - von linksradikal bis bürgerlich - bedroht aus David Schellers Sicht den Zusammenhalt der Mieterbewegung nicht, denn es sei eher ein Netzwerk als ein Bündnis. »Netzwerke, die auch Einzelstimmen neben sich stehen lassen können, haben sich bewährt«, sagt der Soziologe. Es handele sich um eine »Demokratisierungsbewegung mit dem Vermögen, unterschiedliche Standpunkte zuzulassen«.
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Nur um den kleinsten gemeinsamen Nenner gehe es bei der Mietenbewegung jedoch nicht: »Der Rand nach rechts wird ordentlich geblockt.« Als antirassistisch würde Scheller nicht jede Stimme in den Initiativen ansehen, aber Rechte hätten keinen Platz in den Netzwerken. Er erinnert an Versuche der NPD im Jahr 2015, mit einer Demonstration gegen Gentrifizierung in Prenzlauer Berg zu punkten. »Es ist ein Hoffnungsschimmer, wenn mitten in der Krise der Demokratie, während Rechtspopulisten Zulauf haben, sich um die Wohnungsfrage eine starke Mitte-links-Bewegung für eine emanzipatorische Stadtpolitik von Unten etabliert«, sagt Scheller.
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