Veranstalter: 25.000 gegen Verdrängung

Stadtpolitische Proteste am Sonnabend waren viel größer als die Organisatoren im Vorfeld erwartet hatten

  • Tim Zülch
  • Lesedauer: 4 Min.

»Wir sind zwischen 70 und 95 Jahre alt«, sagt Christa Kaes. Sie wohnt seit fünf Jahren am Hansa-Ufer 5 in Moabit. Kaes schaut aus dem Fenster eines silbernen Transporters und lächelt, neben ihr sitzt ein Hund, in der Hand hält sie ein Din-A4-Blatt mit einer selbstgedichteten Interpretation des Klassikers »Bella Ciao«. Mit fünf weiteren Seniorinnen hat sie den Transporter gemietet und sich so die Möglichkeit geschaffen, an der »Demonstration gegen Verdrängung und Mietenwahnsinn« teilzunehmen.

Diese zieht am Sonnabend vom Potsdamer Platz über Kreuzberg nach Schöneberg. Ein jüngerer Nachbar sitzt am Steuer, um die Senioren zu kutschieren. Vor vier Jahren erreichten die Seniorinnen durch öffentliche Aktionen, dass der Eigentümer ihres Wohnhauses die angekündigte Modernisierung verschob und die etwa 65 Mieterinnen und Mieter in dem Wohnhaus zur bisherigen Miete bleiben konnten. »2008 hat die SPD das Haus an Akelius verkauft. Das war ein riesen Fehler«, sagt Kaes. »Die Mieten steigen bei neuen Mietern immer höher - auch ohne Modernisierung.« Die Teilnahme an der Demonstration wollte sie sich nicht nehmen lassen.

So wie 25.000 weitere Demonstrationsteilnehmer, die, so eine Zählung der Organisatoren, am Sonnabend quer durch alle Schichten, mitdemonstriert haben. Die Polizei sprach von knapp 14.000 Menschen. Über 230 mietenpolitische Initiativen unterstützten schließlich das Anliegen. Kathrin Ottovay, Mitorganisatorin von Bizim Kiez, zeigt sich begeistert: »Ich bin sehr beeindruckt und froh, dass so viele verschiedene Menschen gekommen sind. Die ganze Bandbreite Berlins ist auf der Straße.« Im Vorfeld hatten die Organisatoren mit wesentlich weniger Teilnehmern gerechnet. Dementsprechend war die Bühne für die Auftaktkundgebung am Potsdamer Platz zu klein und die Anlage zu leise. Dass trotz anfänglichen Regens so viele Teilnehmer kamen, zeigt wie drängend das Thema ist.

Kalle, von der Sitcom »Guter Wedding, schlechter Wedding« brachte es auf der Bühne auf den Punk: »Dit ist Mist mit den Mieten. Bisher haben alle, die ick kenne immer ne ordentliche Wohnung jefunden. Dit is seit zwee Jahren nicht mehr so. Mein Freund Hotte musste sojar nach Prenzlauer Berg umziehen. Vom Wedding in den Prenzlauer Berch, dit jeht jar nich!«

Die Demonstration schlängelt sich im Anschluss wie ein Lindwurm durch das Zentrum über die Friedrichstraße und Wilhelmstraße nach Kreuzberg. Während das Ende der Demonstration am Potsdamer Platz losging, erreichen die Träger des Fronttransparents bereits den Mehringdamm. Schließlich endet die Demonstration gegen 17.30 Uhr vor den bedrohten Jugendzentren »Potse« und »Drugstore« in der Potsdamer Straße in Schöneberg.

Dort gibt es ein Kulturprogramm mit Interpretationen von Rio Reiser. Die inhaltliche und thematische Vielfalt auf der Demonstration ist groß. Die Forderungen reichen von einer Bodenreform, über die Unterstützung verschiedener bedrohter Projekte, gegen Profite mit der Miete, für die Absetzung Horst Seehofers (CSU) als zuständiger Bundesbauminister bis hin zur Kritik an Konzernen wie Google. Auch alte linke Slogans wie »Kündigung ins Klo: Häuser besetzen sowieso« waren vereinzelt zu hören.

Die Organisatoren waren bewusst auf einen breiten Konsens bedacht gewesen und hatten sich mit spezifischen Forderungen zurückgehalten. Eine Demonstrantin schrieb auf ein Transparent: »Macht mal hinne. Alle guten Demosprüche sind längst verbraucht und ich muss immer noch auf Mietendemos gehen.«

Auch beim Berliner Mieterverein ist man genervt, dass es keine Verbesserungen gibt. Der Verband schreibt in einer Mitteilung: »Beim Immobilienpreisanstieg steht Berlin mittlerweile an erster Stelle. So geht es nicht weiter! Die bisherigen nationalen und regionalen Versuche, den Wohnungsmarkt zu ›bändigen‹, sind weitgehend erfolglos. Die Unterstützer*innen der Demonstration verlangen eine deutliche Umsteuerung. GroKo wach auf«. Außerdem verwies der Mieterverein auf die Wichtigkeit der Wohnung: »Wer die Sicherheit des Wohnens bedroht, missachtet die Würde der Menschen.«

Die Teilnahme von Parteien war von den Organisatoren als nicht erwünscht erklärt worden, um einer Instrumentalisierung der Proteste für parteipolitische Interessen vorzubeugen. Dennoch unterstützten zahlreiche Politiker verschiedener Parteien die Anliegen. Katrin Schmidberger, Lisa Paus und Werner Graf von den Grünen erklärten: »Die Wohnungs- bzw. Raumfrage ist zu der sozialen Frage geworden. Daran wird sich entscheiden, ob Berlin eine solidarische Stadt bleibt.« Sie forderten: »Die Bundesregierung muss ihre Verweigerungshaltung endlich aufgeben und die Städte unterstützen statt sie weiter sozial zu spalten!«

Harald Wolf (LINKE), derzeit amtierender Bundesgeschäftsführer der Linkspartei, sieht in der Demonstration eine Stärkung der eigenen Position. Die LINKE verbreitete ein Statement von Wolf über Twitter: »In Berlin haben gestern 25.000 Menschen gegen Mietspekulationen und für bezahlbares Wohnen aus allen gesellschaftlichen Milieus demonstriert. Das zeigt, wir liegen mit unseren Kampagnenschwerpunkten richtig.«

Lesen Sie auch: Initiativen fordern Kurswechsel – Wohnungspolitik soll radikal geändert werden, Rot-Rot-Grün unterstützt Bündnis

Kathrin Ottovay vom Organisationsteam bezeichnet die gute Resonanz als Neuanfang im Kampf gegen Mietsteigerungen. »Die Demo gibt uns neues Selbstvertrauen, weiter zu machen«, sagt sie »nd«. Konkrete Aktionen seien aber noch nicht geplant. Sie ergänzt: »Entscheidend wird sein, dass das Thema auf die bundespolitische Agenda kommt. Dafür werden wir weiter arbeiten, auch zusammen mit Aktiven aus anderen Städten.«

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal