Schönfärberei auf hohem Niveau

Der Arbeitsmarkt in Deutschland boomt? Von wegen! Für Mechthild Schrooten kann von Vollbeschäftigung nicht die Rede sein.

  • Mechthild Schrooten
  • Lesedauer: 3 Min.

Der Arbeitsmarkt brummt - das ist die landläufige Meinung. Das Wort »Vollbeschäftigung« bringen einige ins Spiel. Vollbeschäftigung bedeutet insbesondere, dass es keine strukturelle Arbeitslosigkeit gibt. Schon an dieser Stelle wird klar, davon sind wir Lichtjahre entfernt.

Der politisch über Jahre vernachlässigte Arbeitsmarkt hat viele Menschen in eine dauerhaft prekäre Situation gebracht. Die Qualifikationen passen nicht zu eventuell offenen Stellen; viele sind langfristig auf Transferzahlungen angewiesen. In einer solchen Situation davon öffentlich zu träumen, dass es Vollbeschäftigung in absehbarer Zeit geben kann, macht deutlich, wie weit sich Politik von dem Lebensalltag der Menschen abgekoppelt hat.

Zur Beurteilung der Situation lassen sich Zahlen heranziehen. Schon die offizielle Arbeitslosenquote lag im März 2018 nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit bei 5,5 Prozent. Das sind knapp 2,5 Millionen Menschen - der Begriff Vollbeschäftigung ist da mehr als deplatziert. Dazu kommt, dass diese Berechnung eine Vielzahl von Arbeitslosen ausblendet, etwa diejenigen, die sich in Qualifizierungsmaßnahmen befinden, bestimmte Altersgrenzen überschritten haben oder sich aktuell krank gemeldet haben. Die Zahl der auf die unterschiedlichen Arten und Weisen gewissermaßen »wegdefinierten« Arbeitslosen liegt bei etwa einer Million. Auch das ist kein Indikator für Vollbeschäftigung.

In der Realität steht der erträumten Vollbeschäftigung vielfach eine Unterbeschäftigung gegenüber. Zahlreiche Studien lassen erkennen, dass viele Menschen, die sich derzeit in Teilzeitbeschäftigung befinden, gern mehr arbeiten würden. Tatsächlich haben in den vergangenen Jahren vor allem die Teilzeitbeschäftigungsverhältnisse zugelegt. Gewissermaßen wird in dieser Gesellschaft Teilzeitbeschäftigung durch die Hintertür zum Normalarbeitsverhältnis. Auch das ist Arbeitszeitverkürzung. Sie geschieht ohne einen entsprechenden Lohnausgleich, so dass Teilzeitbeschäftigung für viele mit einer Prekarisierung einhergeht.

Die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik kommt bei ihrer Kalkulation der »echten« Arbeitslosigkeit unter Einbeziehung der Unterbeschäftigung auf eine Quote von 13,8 Prozent. Damit ist die Arbeitsmarktschieflage für viele Menschen bedrohlich. Wenn dann der Fachkräftemangel in einzelnen Bereichen als Indikator für einen sich »heiß« laufenden Arbeitsmarkt herangezogen wird, dann hat das groteske Züge. Der vielzitierte Fachkräftemangel ist also ein Mangel bei dem aktuellen Lohn. Und er ist nicht objektiv. Bei anderen, viel höheren Löhnen könnte es in vielen Einzelbereichen ganz und gar anders aussehen. Dazu kommt der hausgemachte Fachkräftemangel im öffentlichen Dienst. Offenbar ist der Schlankheitswahn des Staates langfristig ziemlich schädlich. Wenn über Jahre keine ErzieherInnen, PolizistInnen, Feuerwehrleute und LehrerInnen zu einigermaßen attraktiven Konditionen ausgebildet und eingestellt werden, dann gibt es irgendwann Mangel. Das war absehbar. Vor diesem Hintergrund ist es mehr als fahrlässig, den jetzt attestierten Mangel als einen Indikator für eine herannahende Vollbeschäftigung heranzuziehen.

Ein belastbarer Indikator für eine gute Beschäftigungssituation auf dem Arbeitsmarkt sind die Lohnsteigerungen. Kaum läuft es wieder etwas besser, mag sich kaum jemand daran erinnern, dass die Lohnsteigerungen von heute mit Nullrunden von gestern erkauft wurden. Nur langsam zieht die Lohnquote wieder etwas an. Sie liegt 2017 mit 68,5 Prozent am Volkseinkommen immer noch deutlich unter dem Vergleichswerten der 1990er Jahre. In einem solchen Gefüge legten die Unternehmens- und Gewinneinkommen kräftig zu sein. Das ist die verteilungspolitische Realität. Wo sind denn die rasanten Lohnsteigerungen, die sich nachholend die Produktivitätsentwicklung der letzten Jahrzehnte orientieren?

Vollbeschäftigung bleibt in diesem Gefüge ein Wunschtraum. Wenn die Kapitalseite unter den gegebenen Umständen als eine Begrenzung der wirtschaftlichen Aktivität thematisiert wird, so hat das strategische Züge. Das sollte im Hinterkopf behalten werden. Das alles ist Schönfärberei auf hohen Niveau - und zwar auf Kosten derer, die es sich am wenigsten leisten können.

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