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Ukrainemüde

Demokratische und linke Kräfte in der Ukraine haben es schwer: Aus dem Westen kommt kaum Unterstützung, und im Land wird ihnen Nähe zu Russland vorgeworfen.

  • Paul Simon
  • Lesedauer: 7 Min.

Längst sind die Zeiten vorbei, als sich westliche Presse und Revolutionstouristen in Kiew die Klinke in die Hand gaben. Im politischen Europa macht der Begriff der »Ukrainemüdigkeit« die Runde. Immer wieder gerät der Westen mit seinem Klienten in Kiew aneinander. Zu schleppend seien die Reformfortschritte und zu offensichtlich die Versuche der Eliten, ihre Privilegien zu schützen. Denn eine Modernisierung der Ukraine, wie sie die EU fordert, würde es diesen erschweren, sich den Staat zur Beute zu machen.

Nach dem Umsturz von 2014 hatte der Westen eine unabhängige Antikorruptionsbehörde gefordert. Deren Ermittler rückten seitdem den kleptokratischen Strukturen auf den Leib - und stießen immer wieder auf den Widerstand der Machthaber. Im Dezember verlor die Regierung die Geduld und versuchte, die Behörde mit einem Parlamentsbeschluss zu entmachten. Nur vehementer Protest aus dem Westen konnte das verhindern.

Chronik nationalistischer Gewalt gegen Linke in der Ukraine

Das linke Online-Magazin »Vector Media« veröffentlichte Anfang April eine Chronik nationalistischer Aktivitäten seit Jahresbeginn. Einige Beispiele:

19. Januar: Nationalisten greifen eine Gedenkveranstaltung für Opfer rechter Gewalt in Kiew an. Die Polizei verhaftet antifaschistische Aktivisten.

21. Januar: Überfall in Kiew in der Nähe des Büros der Organisation »Queer Home«. Die Angreifer sollen »Sieg Heil« gerufen haben.

28. Januar: 600 Mitglieder der neuen »Nationalen Miliz« marschieren durch Kiew.

8. März: Organisierte Angriffe auf feministische Demonstrationen in Kiew, Ushgorod und Lwiw.

26. März: Ultranationalisten versuchen eine Vorlesung über nationalistische Gewalt zu verhindern. Sie kann unter Polizeischutz stattfinden. Nach der Vorlesung wird eine Teilnehmerin auf der Straße überfallen.

20. April: Die rechtsradikale Organisation C14 räumt nach eigenen Angaben ein Lager von Roma in Kiew. C14 postet Fotos von brennenden Hütten und Zelten auf Facebook und kündigt weitere »Razzien« an. Paul Simon

Als Generalstaatsanwalt setzte Präsident Petro Poroschenko 2016 seinen Parteigenossen Jurij Luzenko durch - obwohl der nicht einmal Jurist ist. Und die Gerichte sind derart kompromittiert, dass die westlichen Geldgeber nur in der Schaffung einer neuen, unabhängigen Antikorruptions-Justiz eine Lösung sehen.

Das fordert auch immer wieder der Internationale Währungsfonds, dessen Milliardenkredite in den letzten Jahren den Kollaps der Staatsfinanzen verhinderten. Neben weiteren Sparmaßnahmen und einer Freigabe des Handels mit dem lukrativen ukrainischen Ackerland müsse unbedingt eine Justiz geschaffen werden, die nicht von der ukrainischen Regierung kontrolliert werden könne, sonst werde es keinen neuen Kredit geben, warnte der IWF zuletzt. Ausländische Investitionen, die das bitterarme Land dringend braucht, um seine tiefe Wirtschaftskrise zu überwinden, werde es nur anziehen können, wenn es den Empfehlungen der westlichen Geldgeber folge. Wegen des niedrigen Lebensstandards ist die post-industrielle Ukraine prädestiniert dafür, das nächste Billiglohnland der EU zu werden. Geschätzt bis zu zwei Millionen Ukrainer helfen als Arbeitsmigranten bereits, die Löhne vor allem im boomenden Polen niedrig zu halten.

Der Westen hat viel Geld in die Reform des ukrainischen Staates gesteckt. Er finanziert etwa Reformgruppen, welche die Regierung unter Druck setzen, indem sie Fälle von Korruption und Rechtsbruch dokumentieren. Andere NGOs setzen sich für die Rechte von Minderheiten oder eine freie Presse ein. Doch der Kampf um Wirtschafts- und Rechtsreformen habe aus der Perspektive des Westens stets Priorität gehabt - sogar vor einer echten Demokratisierung der Gesellschaft, kritisiert etwa der Soziologe Volodymyr Ischenko, der sich selbst zur ukrainischen Linken zählt. »Was die westlichen Geldgeber von der Regierung wollten, sind neoliberale Reformen und Austerität nach IWF-Vorgaben und Kampf gegen die Korruption. Westliche Unternehmen und Investoren sollen Rechtssicherheit haben, wenn sie in die ukrainischen Märkte vordringen«, sagt Ischenko. Die sich verschlechternde Menschenrechtssituation thematisiere der Westen bei Verhandlungen mit der ukrainischen Regierung kaum.

Auch liberale Reformgruppen waren zuletzt immer öfter Repressionen ausgesetzt. Im März letzten Jahres wurde ein Gesetz verabschiedet, das alle Antikorruptions-Aktivisten anweist, ebenso wie Staatsbedienstete ihre Einkommen und Besitzverhältnisse dem Staat offenzulegen. Damit sind sie selbst dem Korruptionsverdacht ausgesetzt - und der Staat kann das nutzen, um sie unter Druck zu setzen.

»Anti-Korruptionsaktivisten und NGOs wurden in den letzten Monaten von verschiedenen Regierungsvertretern aufgesucht und bedroht«, schrieb Oleksandra Ustinowa im Januar in einem mit Brian Dooley von der US-Menschenrechtsorganisation Human Rights First verfassten Beitrag für das amerikanische Magazin »Newsweek«. Ustinowa ist eine der Vorsitzenden des Anti-Corruption Action Centers, einer NGO, die unter anderem von der amerikanischen Botschaft finanziert wird - und gegen die der ukrainische Inlandsgeheimdienst Ermittlungen führt. Diese seien rein politisch motiviert und hätten das Ziel, die NGO zum Schweigen zu bringen, ist sich Ustinowa sicher.

Viele haben angesichts solcher Ereignisse längst eine pessimistische Sicht auf die Errungenschaften des Maidan. »Die Umstürze der Vergangenheit, auch der Maidan, haben zwar auf der Ebene der Eliten zu Wechseln geführt, aber die grundsätzliche politische Struktur ist unverändert«, sagt Sergey Movchan, ein linker Aktivist und Autor der ukrainische Ausgabe des Onlinemagazins »Political Critique«.

Dass man das jetzige politische Regime nicht als autoritär bezeichnen könne, liege vor allem daran, dass keiner der oligarchischen Machtblöcke stark genug sei, die ganze Macht an sich zu reißen, wie das etwa der Janukowitsch-Clan versucht hatte. »Deshalb gibt es immer noch Rivalität in der Politik, aber es ist natürlich eine Rivalität der Oligarchen, der großen Geschäftsgruppen«, sagt Movchan. Diese oligarchische Rivalität bestimme auch die Massenmedien. »Eine Studie hat gezeigt, dass vier Männer die Fernsehsender kontrollieren, die 76 % aller Zuschauer erreichen und 93 % aller Radiohörer. Es gibt zwar Pluralismus, und die auch in der Bevölkerung unpopuläre Regierung wird scharf kritisiert, aber alles gehört Oligarchen. Und natürlich produzieren sie Sendungen, die den Interessen der Elite entsprechen«, sagt Movchan.

Westliche Geldgeber investierten auch in die Förderung von unabhängigem Journalismus in der Ukraine. Doch Cheryl Reed, die im Auftrag der Fullbright-Stiftung ukrainischen Journalisten investigative Recherche beibrachte, beklagte bereits im Juli 2017, dass immer wieder Journalisten, »die kritisch über die Regierung, den Präsidenten, das Militär, die Polizei berichten, als Werkzeuge der russischen Propaganda denunziert werden«.

»Es gibt viel Selbstzensur bei bestimmten Themen. Abweichende Medien werden unter Druck gesetzt«, sagt auch Sergey Movchan. So etwa die Tageszeitung »Vesti«, deren Besitzer dem alten Regime nahestanden und deren populärer Online-Radiosender mittlerweile von der Regierung geschlossen wurde. »Bei Vesti war es legaler Druck über die Gerichte, aber mit Unterstützung ›von der Straße‹, also von Nationalisten«, erklärt Movchan.

Der berüchtigtste Fall einer solchen stillschweigenden Kooperation zwischen Regierung und freien, oft gewalttätigen nationalistischen Kräften ist die Seite »Mirotworez«, die die persönlichen Informationen zahlreicher Journalisten und Privatpersonen veröffentlicht. Die Betreiber sind privat, aber erhalten Lob vom Innenminister.

Obwohl rechtsradikale Parteien bei Wahlen wenig Rückhalt in der Bevölkerung finden, sind die nationalistischen Gruppen nicht unbedeutend. Im Gegensatz zu den Scheinparteien und Oligarchenwahlvereinen, die sonst die Politik bestimmen, haben sie echte Anhänger und können auch große Demonstrationen organisieren. Auf sozial-populistische Weise agitiert etwa die Swoboda-Partei gegen die Ausbeutung des ukrainischen Volkes durch die Oligarchen.

Der gewaltvolle Umsturz, die Erosion des Gewaltmonopols und der Krieg spielten auch militanten Gruppen in die Hände. Viele Nationalisten haben sich in bewaffneten Verbänden organisiert - so etwa im Regiment Asow, das heute Teil der Nationalgarde ist und an radikale politische Strukturen angebunden bleibt. Auch weil es im Grunde keine politische Linke im Land gibt, bestimmen nationalistische Ideen immer mehr die Öffentlichkeit.

Die Frage nach der Bedeutung des Ultra-Nationalismus in der Ukraine ist sehr kontrovers - auch im Ausland. Movchan zufolge mache auch die russische Propaganda, die das Thema instrumentalisiere, eine offene Debatte über das Thema schwierig. Aber im Gegenzug leugneten selbst ukrainische Liberale oft, dass es überhaupt ein Problem gebe. »Die Medien sprechen häufig, wenn es wieder einmal einen Fall von patriotischer Gewalt gegeben hat, von ›Hooligans‹, ›unbekannten Patrioten‹ oder sogar ›Provokateuren‹, um nicht zugeben zu müssen, dass es organisierte, militante Nationalisten gibt, die auch Zivilisten bedrohen.«

LGBT-Personen, Feministen, vermeintliche Sympathisanten der Separatisten und zuletzt auch Roma gehören zu den Opfern der patriotischen Gewalt. »Linke müssen sich vor jeder Veranstaltung oder Demonstration zunächst die Frage stellen: Wie kommen wir nachher sicher nach Hause? Es kommt oft vor, dass die Polizei mit den Rechten kooperiert, statt gegen sie vorzugehen«, sagt Movchan.

Internationale Menschenrechtsorganisationen beschreiben die Situation in der Ukraine in zunehmend scharfen Worten. »Medien-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit werden unter Verweis auf die Notwendigkeit, die russische Aggression abzuwehren, zunehmend eingeschränkt«, heißt es etwa in einem Statement von Human Rights Watch vom Januar.

So arbeitet auch die russische Invasion gegen eine Demokratisierung der ukrainischen Gesellschaft. »Es ist ja fast ein Naturgesetz, dass in Staaten, die sich im Krieg befinden, nationalistische Ideen erstarken«, sagt Movchan.

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