Himmel und Hölle des Eisenbahners

Wiederbegegnung mit Irmtraud Morgners fantastischer Prosa

  • Monika Melchert
  • Lesedauer: 3 Min.
Wie konnte diese wunderbare Schriftstellerin nur so schnell in Vergessenheit geraten? Und dabei war ihre Stimme etwas ganz Besonderes, ihr Erzählton so unverwechselbar wie amüsant. Seit Irmtraud Morgner (Foto: Dieter Andree) vor 17 Jahren starb, mit erst Mitte Fünfzig, ist unsere Gegenwartsliteratur um eine kräftig wahrnehmbare Farbe ärmer geworden. Das, was sie konnte, und nur sie, fehlt seither in Ost wie West. Lügenmärchen und Gauklergeschichten waren, als sie zu schreiben begann, bald ihr Markenzeichen geworden. Richtig berühmt aber wurde sie mit der Salman-Trilogie, dem großangelegten Romanwerk, über dessen dritten Teil der Tod sie einholte: »Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz« (1974), »Amanda. Ein Hexenroman« (1983), und, 1998 aus dem Nachlass veröffentlicht, der Roman in Fragmenten »Das heroische Testament«. Die unerschöpfliche Fantasie dieser Frau, die eine Vision hatte, zog Leser beiderlei Geschlechts magisch an: Männer und Frauen sollten gemeinsam wieder ein Ganzes bilden, die grauenhaft quälenden Geschlechterkämpfe überwunden werden. Die Frau sollte und wollte bei ihr einfach nicht länger das »Hinterland des Mannes« sein. Fast eine neue Schöpfung sollte entstehen, und nicht zufällig spielten Himmel und Hölle in den Romanen eine beflügelnde Rolle. Dabei musste sie gar nicht so viel erfinden, wie es den äußeren Anschein hat: Sie nahm die Praxis ihrer Gesellschaft mit allen Gebrechen und projizierte darauf fantastische, mythische oder mittelalterliche Bilderbögen. Das Grundmuster des Schelmenromans stand Pate für ihren Roman »Die wundersamen Reisen Gustav des Weltfahrers« (1972 erstmals erschienen). An sieben Mittagen, quasi den Schöpfungstagen, erzählt der ambitionierte Eisenbahner und Lokomotivführer Gustav seine weltumspannenden Eskapaden, und natürlich ist Gustav der Großvater der Ich-Erzählerin: »Ich lernte meinen Großvater kennen, als er begraben war. Er hieß Gustav und sah auch so aus.« Es ist ein großer Erzählspaß geworden, in den man eintauchen kann wie in Märchen - und plötzlich packt man dabei die nackte Wirklichkeit am Schopfe. Mit dem Eisenbahneralltag hatte es die Schriftstellerin, und auch in ihren späteren Büchern macht sie dieser Verkehrsform beständig Liebeserklärungen. Schon als kleines Mädchen wollte auch Laura Salman, die Hauptfigur ihrer Romantrilogie, Lokführer werden, doch ihr standen mehr als nur Geschlechterschranken entgegen. Immer wieder und immer heftiger ließen Irmtraud Morgner besonders die Existenzbedingungen von Frauen nicht zur Ruhe kommen: So wie es war, konnte es nicht bleiben. Ihre Stimme wäre auch heute unverzichtbar. Der kleine, engagierte Verbrecher Verlag in Berlin hat sich das Verdienst erworben, zunächst einmal in zwei neuen Publikationen gegen dieses Vergessensein der Irmtraud Morgner vorzugehen, die eine blau, die andere rot, handlich und preiswert: »Gustav der Weltfahrer« und Erzählungen in Form eines »Lesebuchs« zum Entdecken. Weitere Ausgaben sollen folgen. Das Besondere ihres Erzählens aber, das in der Erinnerung so lebendig geblieben ist, besteht in ihrem ungewöhnlichen Blick auf die Dinge dieser Welt, naiv und verschlagen zugleich, ironisch leicht und nicht selten auch mit bitterem Sarkasmus gewürzt. Ein wundersames Geflecht von leuchtend grellen Episoden und skurrilen Figuren. Morgnerscher Sprachwitz und augenzwinkernder Schalk, drastische Kapriolen der Handlung ebenso wie feinziselierte Figurenpsychologie machen die Wiederbegegnung mit ihrer Prosa zur reinen Freude. Irmtraud Morgner: Die wundersamen Reisen Gustavs des Weltfahrers. 154 S. und Erzählungen. Ein Lesebuch. 165 S. Beide Verbrecher Verlag Berlin, Broschur, je 13 EUR.
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