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»Unser Ensemble will nach vorn schauen«
Viktor Schenkel inszeniert mit jungen Geflüchteten poetische Bilder aus Tanz und nonverbalem Theater
Sie sind Gründer und Leiter des Münchner Theaters Grenzenlos. Was ist das Besondere an diesem Theater?
Theater Grenzenlos wagt mit jungen Geflüchteten künstlerisch anspruchsvolle Projekte, die den Verlust von Heimat und die Suche nach Zugehörigkeit ins Zentrum stellen. Wir schaffen einen geschützten Raum, in dem Lebensgeschichten eine Form finden und Ohnmacht sich in Handlungsfähigkeit verwandelt. Unsere Inszenierungen sind sprachfrei: poetische Bilder, die das Publikum zu eigenen Deutungen einladen.
Wie kamen Sie auf die Idee, ein solches Theater zu gründen?
Durch die zuvor jahrelange Arbeit in Wohngruppen mit auffälligen Jugendlichen war ich 2016 auch neugierig auf die jungen Menschen, die damals zu uns kamen. In einem Ankunftshaus in München-Freimann sahen mich viele 15-Jährige an – aus dem Nest gefallen, plötzlich auf sich allein gestellt. Dieser Blick ging mir unter die Haut. Meine Antwort auf die Frage, wie ihnen zu helfen sei, war konkret: Integration mit den Mitteln des Theaters, im Quartier, im direkten Kontakt mit einheimischen Schülerinnen und Schülern. So wurde das Theater Grenzenlos geboren.
Viktor Schenkel (70) gründete 2015 in der Münchner Mohr-Villa das Theater Grenzenlos e. V., das er seit vier Jahren hauptberuflich leitet. Das Ensemble besteht aus jungen, unbegleiteten Geflüchteten. Zuvor arbeitete er als Schauspieler und Clown, als Grafiker und als Model für Werbefilme.
Wie waren die ersten Kontakte mit den jungen Geflüchteten?
Ich klopfte an viele Türen – Ankunftshäuser, Träger, Beratungsstellen. Mal kamen mehr, mal weniger Jugendliche. Meine Zweifel waren, ob das trägt. Dann sprach es sich herum. Über Mundpropaganda wuchs die Gruppe, und ich konnte eine kontinuierliche, interkulturelle Theaterarbeit aufbauen.
Wie haben Sie die Jugendlichen für Ihr Projekt begeistert?
Am Anfang standen Kennenlern-Abende, Vertrauensspiele, ein echtes Willkommen in einer »Theaterfamilie«. Es ging darum, gesehen und wertgeschätzt zu werden. Mit Dolmetscher*innen hörte – wer wollte – Fluchtgeschichten, oft von Verlust und Tod gezeichnet. Manche schwiegen, andere erzählten unter Tränen. Unsere Empathie und die klare Haltung, dass hier eine Zukunft möglich ist und wir daran mitarbeiten, hat Vertrauen geschaffen. Im Spiel erweiterten wir gemeinsam Grenzen – und brachten Talente ans Licht, die vielen zuvor nicht bewusst waren.
Aus wie vielen Leuten besteht das Theaterensemble heute?
Aus acht Personen. Sie kommen aus Uganda, Afghanistan und der Ukraine.
Mit welchen Themen beschäftigt sich das Theater?
Anfänglich: Ankommen, Aufeinanderprallen, Orientierung. Heute: Versöhnung in der Familie, Brücken zwischen Wertesystemen, einander begegnen und lernen, Einsamkeit und Trauma überwinden, gesellschaftliche Balance, Liebe – und das Finden eines Zuhauses in der Fremde. Alles, was unser Ensemble beschäftigt, findet seinen Weg auf die Bühne.
Behindern traumatische Erlebnisse nicht manchmal die Arbeit?
Vergangenes ist da, aber nicht alles. Unser Ensemble will nach vorn schauen: Fuß fassen, bleiben, träumen. Wir betrachten das heutige Leben: Chancen, Hoffnungen, Verantwortung. Und wir fragen: Was bringen die jungen Menschen mit, wovon auch unsere Gesellschaft lernen kann?
Welche Rolle spielen Sprachbarrieren?
Keine. Wir arbeiten bewusst nonverbal – mit Körper- und Mimenspiel, Tanz und Rhythmus. Traumata zeigen sich oft im Körper. Über Bewegung lösen wir Blockaden. In einem mehrjährigen Prozess entsteht so ein wahrhaftiges Spiel, in dem Laien ein authentisches Bild ihrer Person und Geschichte zeigen. Unser wortloses Theater ist ein Gegenentwurf zur Geschwätzigkeit unserer Zeit.
Ihr eigener Lebenslauf verlief alles andere als geradlinig: Sie arbeiteten als Schauspieler und Clown, hatten Auftritte in der Fernsehserie »Café Meineid« und beim »Circus Roncalli«. Schwingt beim Gedanken an eine verpasste Schauspielerkarriere etwas Wehmut mit?
Ich habe 20 Jahre Nebenrollen gespielt – viel Warten, viele Hoffnungen. Ein Schlüsselmoment war das Helfen: Ich spürte tiefe Zufriedenheit im Weitergeben. Mir wurde klar, mein eigentliches Talent liegt im Entwickeln und Inszenieren von Ideen. Also bin ich »auf die andere Seite« gewechselt. Heute kann ich alles bündeln, was ich gelernt habe – Schauspiel, Clownerie, Grafikdesign – in Regie, Bühne und Kommunikation. Das ist kein Verlust, sondern eine folgerichtige Entwicklung.
Wie sehen Sie heute den Theater- und Kulturbetrieb?
Unsere Theaterarbeit tragen seit einem Jahrzehnt zwei Kräfte: die Liebe zu den Menschen und der Wille, gelingende Integration zu ermöglichen. Theater ist für uns der Raum, diese Welten zu teilen. Wir diskutieren keine Tagespolitik auf der Bühne – wir wollen niemanden instrumentalisieren. Unsere Arbeit ist nicht mit dem professionellen Kulturbetrieb vergleichbar: kleine Strukturen, fragile Finanzierung, viel Idealismus. Aber sie ist ehrlich – und sie wirkt dort, wo Menschen einander begegnen.
Sie werden durch die Mohr-Villa, das Münchner Kulturreferat und das bayerische Innenministerium gefördert. Was bedeutet Ihnen diese Art Anerkennung Ihrer interkulturellen Arbeit?
Wir sind sehr dankbar dafür. Ohne Förderung könnten wir nicht bestehen. Dieser Hinweis erscheint uns für die Außenwirkung und Wahrnehmung in der Gesellschaft nicht ganz unwesentlich.
Ihre Theaterproduktion für 2025 widmet sich dem Thema Liebe. Was erwartet die Zuschauer?
Ein Theater- und Tanzstück mit poetischen Bildern, das tief ins Herz zielt: Eine junge Frau voller Lebensfreude trifft eine vereinsamte Gesellschaft. Durch ihre Unmittelbarkeit öffnen sich Herzen, Sinne wachen auf. Gemeinsam begeben sich alle auf die Suche nach dem verlorenen Gefühl von Nähe. Unsere Einladung: Verlieben Sie sich neu – ins Leben, in die Menschen, in sich selbst.
Ihr Theater wird getragen von einem Verein, der in diesem Jahr sein zehnjähriges Bestehen feiert. Wie soll es weitergehen?
Wir wollen unseren Stil des wahrhaftigen, sprachfreien Theaters weiterentwickeln – mit neuen Projekten, neuen Köpfen, neuen Kooperationen. In München soll ein Begegnungsraum wachsen, offen für Menschen aus aller Welt, die Theater und kulturellen Austausch suchen: ein Zufluchts- und Erfahrungsort. Und: Wir möchten vermehrt auf Tour gehen, über München hinaus.
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