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Begriff ohne Unterleib

Über die linke Mode, sich vom »Bürgerlichen« abzugrenzen

  • Tom Strohschneider
  • Lesedauer: 8 Min.

Begriffe, sagt Bertolt Brecht in seinen »Flüchtlingsgesprächen«, »sind sehr wichtig. Sie sind die Griffe, mit denen man die Dinge bewegen kann.« Linke wollen die Welt verändern, verbessern, gestalten - aber sie nutzen beim Reden darüber bisweilen Begriffe, bei denen man sich fragt, wer da wie und warum in den Griff genommen werden soll. Und wohin auf diese Weise welche Dinge politisch in Bewegung gebracht werden könnten.

Unlängst beschied eine führende Abgeordnete der Linkspartei, »die Grünen sind eine bürgerliche Partei geworden«. Auf der Website der Partei findet man den kritisch gemeinten Hinweis auf einen »Kommentar der bürgerlichen Presse« zu irgendeinem politischen Vorgang. Vom sich als links verortenden innerparteilichen Flügel wird man über das »Wunschdenken in den bürgerlichen Medien und in der SPD« belehrt.

Worauf die Markierung mit dem B-Wort hinauslaufen soll, wird in keinem dieser Fälle mitgeteilt. »Bürgerlich«, das ist eine Abgrenzungsvokabel, eine kritisch gemeinte Parole ohne Unterleib. Es ist ein Wort, das so, wie es im politischen Alltagsgebrauch von Linken oft verwendet wird, in Wahrheit überhaupt nichts bezeichnet: ein leerer Signifikant, den mit Sinn aufzuladen denen überlassen bleibt, die die Adressaten sind.

Eine kurze Durchsicht der zum bevorstehenden Linksparteitag eingereichten Anträge vermag zu illustrieren, welche unterschiedlichen »Bedeutungen« hier angesprochen, ausgelöst werden sollen. Da ist an einer Stelle zum Beispiel vom »Sumpf kleinbürgerlicher Logik« die Rede - man soll wohl an »Spießertum« denken, was eher auf lebensweltliche, kulturelle Merkmale abzielt. Oder eine schon etwas in die Jahre gekommene Denkweise soll hier reaktiviert werden, laut der es Leuten, die nicht zum Proletariat gehören, am Klassenstandpunkt fehle, weshalb sie schwanken wie Grashalme im politischen Wind.

An anderer Stelle im Antragsheft liest man von den »bürgerlichen und neoliberalen Parteien«. Gehören die einen kraft ihrer Stellung im ökonomischen Interessengefüge zu den »Bürgerlichen« - und die anderen sind eine durch eine bestimmte Politik definierte Untergruppe? Man erfährt es nicht.

Ein paar Seiten weiter tauchen dieselben Kräfte als »bürgerliche Parteien der sogenannten Mitte« auf, wobei das Abgrenzungsbedürfnis noch dadurch unterstrichen wird, dass Anführungszeichen verwendet werden oder diese Mitte nur eine »sogenannte« ist. Ist sie also in Wahrheit gar nicht »bürgerlich«? Mehr noch: Handelt es sich hier um den Versuch einer soziologischen Unterscheidung? Wer wäre »das Andere« und wie steht dieses zu jener »bürgerlichen Mitte«? Sind die, die da über »die Bürgerlichen« sprechen, selbst womöglich »proletarisch«? Aber was würde zum Beispiel eine »proletarische« Zeitung oder Partei ausmachen?

Anzunehmen, dass bei der Formulierung »bürgerlich« oft auch der Gedanke an das dichotomische Klassenmodell aus dem »Manifest« die Feder führt, mit dem sich die Welt so schön in »die« und »wir« teilen lässt - wenn man ganz fest dran glaubt. Allerdings wäre dann zu fragen, wie das behauptete »Oben« begrifflich zu fassen ist - als Bourgeoisie?

Schlagen wir kurz einmal bei den beiden Autoren dieser schönsten aller Propagandaschriften nach. Friedrich Engels hat in seinem Vorwort zu »Die Lage der arbeitenden Klasse in England« bereits 1845 Anlass zu der Bemerkung gesehen, »dass ich das Wort Mittelklasse fortwährend im Sinne des englischen middle-class (oder wie fast immer gesagt wird: middle-classes) gebraucht habe«. Damit schloss er eine Differenzierung ein (es ist von mehreren »Mittelklassen« die Rede, es muss Gründe geben, warum man von diesen in der Mehrzahl spricht). Für Engels bezeichnete die Bourgeoisie laut der damals gängigen französischen Redensart »die besitzende Klasse«, es ging aber auch darum, sie »von der sogenannten Aristokratie« zu unterscheiden. Hier verweist Engels auf den historischen Ort dieser Klassen, einzelne Bourgeois habe es schon länger gegeben, zur »herrschenden Klasse« seien sie damals erst geworden.

Karl Marx hat ein paar Jahre später, nämlich 1854, in einem Leitartikel für die »New-York Daily Tribune« die »englische Bourgeoisie« als eine wiederum in Schichten unterteilte Gruppe beschrieben, die »vom ›allervornehmsten‹ Rentier und Inhaber von Staatspapieren, der alle Arten des Geschäfts als gewöhnlich betrachtet, bis zum kleinen Ladenbesitzer und Advokatengehilfen« reiche. Würde man den Ladenbesitzer heute noch dazurechnen? Marx tat dies in anderem Zusammenhang schon damals nicht.

Engels wiederum sah sich 1888 im Vorwort zu einer englischen Ausgabe des »Manifest« genötigt, erneut eine Definition der Bourgeoisie zu geben: Darunter verstehe man, schreibt er nun, »die Klasse der modernen Kapitalisten«, welche »Besitzer der gesellschaftlichen Produktionsmittel sind und Lohnarbeit ausnutzen«. Der Rentier ist hier also nicht mehr dabei. Wie schon Florian Schmaltz angemerkt hat, bleibt im letztgenannten Beispiel zudem offen, wer zur Bourgeoise zählt, »wenn staatliche und andere juristische Eigentumsformen, wie Aktiengesellschaften, als Eigentümer an die Stelle des individuellen Eigentümers treten«.

Das ist kein Argument gegen Marx und Engels, im Gegenteil: Die beiden haben ihre Begriffe immer wieder neu formuliert, es waren keine absoluten Wörter, sondern analytische Kategorien, mit denen eine Wirklichkeit zwecks Veränderung kritisiert werden sollte, die selbst ständig in Bewegung war. Die Begriffe mussten die Bewegung mitmachen.

Die Beispiele führen noch auf eine andere Spur: Hierzulande werden als »bürgerlich« in aller Regel zwei sehr unterschiedliche Dinge beschrieben. Auf der einen Seite scheint er auf die Bourgeoisie zu verweisen, also auf eine ökonomische Statusbezeichnung. »Bürgerlich« sind dann die, die im Interesse dieser Bourgeoisie Politik machen. Auf der anderen Seite steckt der »Bürger« in dem Wort, also der politisch und rechtlich definierte Citoyen, der Staatsbürger, die Verkörperung eines politischen Ideals.

Das Bedürfnis, das »Bürgerliche« als Aspekt einer bestimmten Stellung zu den Produktionsmitteln zu sehen, scheint gerade jetzt wieder größer geworden - weil in der gesellschaftlichen Linken eine Debatte darüber läuft, ob klassenpolitische Rückbesinnung nötig ist. Das hat bisweilen den Charakter einer bloßen Umkehrung; aus dem kritisierten »Verrat« wird ein neuer Proletkult. Bisweilen werden politische Konkurrenzorganisationen also als Träger der Interessen der »anderen Klasse« gestempelt. Sind sie das? Und wenn es so wäre, bedarf dies nicht erst der analytischen Begründung, einer empirischen Kritik also? Wie sonst soll der Begriff zum Griff werden?

Wo mit Worten geworfen wird, ohne vorher zu klären, was diese meinen sollen, entsteht ein weiteres Problem: »Bürgerlich« ist nicht als Lob gemeint, sondern als Abwertung. Auch die kleine Begriffsschwester »bildungsbürgerlich« trifft man heute unter Linken gern auch als Vokabel des Tadels an bestimmten Denkweisen, kulturellen Selbstbeschreibungen an. Was als klassentheoretisch untermauert erscheint, ist oft bloßes Ressentiment.

Schlimmer aber noch: Die Verwendung kann, bisweilen muss sie sogar, als Distanzierung von den Ergebnissen jener politischen Kämpfe interpretiert werden, die mit der »bürgerlichen« Emanzipation einhergingen: demokratische Regeln, rechtliche Gleichheit, parlamentarische Verfahren, liberale Freiheitsansprüche. Richtig ist zwar auch: Diese hebeln den »stummen Zwang« der ökonomischen Verhältnisse nicht aus, ändern aber die Voraussetzungen, das Kapitalinteresse zugunsten des gesellschaftlichen Interesses zurückzudrängen.

So, wie aber über »das Bürgerliche« oftmals gesprochen wird, begräbt man diese Widersprüchlichkeit unter Begriffen, von denen man sich eine stärkere politische Wirkung verspricht - der Abgrenzung, der Emotionalisierung, der Gegnerschaft. Es macht einen Unterschied, ob man meint, »bürgerlich« tauge heute noch als eine Kategorie zur Beschreibung sozialer Verhältnisse, ob man hier auf kulturelle Lebensnormen hinauswill oder ob die demokratiepolitische Seite des Begriffs zur Geltung gebracht werden soll.

Mehr definitorische Genauigkeit wäre ein Gebot der politischen Debattenlage. Denn, um einmal die oben kritisierte Rhetorik zu bemühen, auch »auf der bürgerlichen Seite« ist das B-Wort als Selbstbeschreibung prekär geworden. Das hat einerseits mit »besitzbürgerlichen« Zweifeln an gesellschaftlichen Verhältnissen zu tun, die mit der Finanzkrise ab 2007 aufkamen und Protagonisten des Kapitalismus zugestehen ließen, die Linken könnten womöglich doch recht gehabt haben.

Andererseits wird »das Bürgerliche« von rechts »bedroht«, indem sich etwa eine Partei wie die AfD als letzte Bewahrerin der Werte und Ziele des »bürgerlichen« Lagers inszeniert. Die das B-Wort gegen solcherlei rechtsradikale Anmaßung verteidigen, zielen allerdings nicht auf die ökonomische Dimension des Begriffs, sondern ihnen geht es um einen Kanon, der als »liberal« bezeichnet werde könnte.

Es handelt sich dabei übrigens nicht um eine bundesdeutsche Spezialität, auch in der Schweiz wird dieser Kanon gegen die Rechtsaußen-Partei SVP verteidigt. »Widersprechen Erscheinungen wie der Anti-Etatismus, die illiberale Konstruktion einer zu bekämpfenden ›Classe politique‹ und einer Elite als Feindbild, die Missachtung der Gewaltenteilung als Fundament unserer Demokratie, der Angriff auf unsere demokratischen Institutionen, indem sie lächerlich gemacht oder würdelos angeschwärzt werden (Parlament als Schwatzbude; Bundesrat als Landesverräter, volksfeindliche Justizorgane), Fremdenfeindlichkeit«, so hat das in der »Neuen Zürcher Zeitung« vor einiger Zeit der Jurist und freisinnige Politiker René Rhinow formuliert, »widerspricht dieser neue ›Klassenkampf‹ nicht diametral den überlieferten bürgerlichen Werten?«

Nun würden Linke sicher nicht von »Klassenkampf« sprechen, Begriffe ohne Unterleib sind ziemlich weit verbreitet. Was gemeint ist, hat der inzwischen zum FAZ-Mitherausgeber aufgestiegene Jürgen Kaube schon vor Jahren einmal etwas zielgenauer formuliert: »Je verbrauchter der Begriff des Bürgerlichen also ist, desto mehr wird er aufgeblasen, um in Wahlkämpfen so zu tun, als würden gerade letzte Schlachten um letzte Grundorientierungen und Werte und Gesellschaftsordnungen geschlagen.« Und nicht nur in Wahlkämpfen.

Es scheint, als beschränke sich die Substanz des B-Wortes bei Linken heutzutage vor allem darauf, die von Kaube damals aufgemalte Grenze neu zu ziehen: »Bürgerlich - das sind, so verstanden, die Leute rechts von der Sozialdemokratie.« Heute sind schon die Grünen »bürgerlich«. Und geht das so weiter, wird die Abgrenzungsvokabel bald auch auf noch mehr Linke selbst gemünzt. Es gibt auch dafür historische Vorläufer. Man sollte nicht von Vorbildern sprechen.

Tom Strohschneider war bis Ende 2017 Chefredakteur von »neues deutschland«

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