Und plötzlich Multiple Sklerose

Über den Umgang mit einer »Hätte-wäre-Konjunktiv-Krankheit«

  • Antonia Hofmann, Köln
  • Lesedauer: 4 Min.

In mehr als sieben Metern Höhe und mit dem Rücken zum Wasser macht sich Patrick bereit. Nur seine Fußballen berühren noch den Beton des Sprungturms in der Kölner Sporthochschule. Der 30-Jährige hebt die Arme. Manchmal blockiert in diesem Moment etwas in Patricks Kopf: Was wäre, wenn? Durch seine Krankheit sind solche Momente häufiger geworden. Heute springt Patrick dennoch, macht einen Rückwärtssalto und taucht unter - trotz der Multiplen Sklerose.

Vor knapp zwei Jahren bekam Patrick Arendt, Hobby-Wasserspringer aus Düsseldorf, die Diagnose. Er fuhr gerade Rad, als plötzlich Nummernschilder und Straßennamen auf seinem rechten Auge verschwammen. Nach mehreren Arztbesuchen und Untersuchungen kam dann der Schlag ins Gesicht: »Fuck, MS«, dachte Patrick. »Habe ich jetzt die Doppelsichtigkeit-Augen-Scheiße für den Rest meines Lebens?«

Patricks erster sogenannter Schub wurde mit Cortison behandelt und dauerte drei Monate. Solche neurologischen Ausfälle sind typisch für Multiple Sklerose, eine nicht heilbare chronisch entzündliche Erkrankung, bei der das Immunsystem fälschlicherweise das Zentrale Nervensystem angreift. In Deutschland leben laut einer aktuellen Studie immer mehr gesetzlich Versicherte mit der Diagnose. Ihr Anteil an der Untersuchungsgruppe wuchs demnach innerhalb von sechs Jahren von rund 0,25 Prozent (2009) auf knapp 0,32 Prozent (2015).

»Studien aus anderen westlichen Ländern haben gezeigt, dass die Lebenserwartung von MS-Patienten zugenommen hat und wir gehen davon aus, dass das auch in Deutschland der Fall ist«, begründet einer der Autoren, Jakob Holstiege vom Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung, einen Teil der Zunahme.

Zudem erkrankten heute in unseren Breitengraden tatsächlich mehr Menschen neu an MS. Die genauen Gründe kennen Wissenschaftler nicht. »Über die Erkrankungsursachen der MS weiß man manches, aber man hat kein vollständiges Bild davon«, sagte Holstiege im Vorfeld des Welt-MS-Tages am 30. Mai. Die Krankheit gilt als genetisch beeinflusst, soll aber auch mit Umweltfaktoren wie Rauchen, Vitamin-D-Mangel oder Übergewicht in der Jugend zusammenhängen.

Patricks zweiter und bisher letzter Schub kam im November 2016: ein anfangs sehr starkes und bis heute andauerndes Kribbeln im linken Arm und Bein. Im Training habe es einmal so doll gekribbelt, dass er unsicher wurde: »Irgendwas hat mir gesagt, spring nicht, sonst landest du auf der Fresse.« Aber Patrick arbeitet daran. »Ich gehe es im Kopf durch«, sagt er. »Meine Leidenschaft lasse ich mir nicht durch meine Krankheit kaputt machen.«

Ob und wann ein nächster Schub kommt, weiß niemand. Patrick nimmt täglich Tabletten, die den Krankheitsverlauf eindämmen sollen. »Dann schießt minutenlang Blut in meinen Kopf und ich sehe aus wie eine Tomate«, erzählt der Kameramann und Oberbeleuchter von den Nebenwirkungen. »Solche Tabletten sind halt keine Kopfschmerztabletten.« Er fragte sich früher oft, ob die Medikamente überhaupt anschlügen. Aber hätte er sie die vergangenen zwei Jahre nicht genommen, wäre die Krankheit heute vielleicht weiter fortgeschritten. »Die MS ist eine Hätte-wäre-Konjunktiv-Krankheit.«

Patrick kommt mit dem bisherigen Krankheitsverlauf gut klar. »Ich musste in meinem Leben nichts ändern«, sagt er. »Es dauert eine Weile, bis man das realisiert.« Denn anfangs belastete ihn die Ungewissheit. »Das Unbekannte macht den Brainfuck aus.« Nach dem zweiten Schub ging es in den Keller. »Depressionsartige Zustände«, sagt Patrick. »Ich habe mich sozial abgekapselt und bin nicht mehr zum Sport gegangen.« Jeden Tag kämpfte er damit, aufzustehen oder zur Arbeit zu gehen. »Das hat mich so lange kaputt gemacht, wie ich mir Gedanken darüber gemacht habe.« Irgendwann akzeptierte er die Ungewissheit, wurde entspannter: »Niemand weiß, wie es in fünf Jahren, zehn Jahren oder zwei Wochen ist.«

MS-Kranke landeten heute nicht mehr zwingend im Rollstuhl, sagt auch Heinz Wiendl, Direktor der neurologischen Klinik Münster und stellvertretender Vorstandsvorsitzender des Kompetenznetzes Multiple Sklerose. Früher sei davon ausgegangenen worden, dass es etwa der Hälfte aller MS-Patienten nach fünf bis zehn Jahren dauerhaft schlecht ginge und sie nicht mehr arbeiten könnten. »Das hat sich dank neuerer Therapien deutlich gebessert«: 80 bis 90 Prozent der konsequent Therapierten befänden sich heute nach diesem Zeitraum in einem identisch neurologischen Zustand wie zu Therapie-Beginn. »Es gibt nach wie vor schwierige und desaströse Fälle«, sagt Wiendl. »Aber die Kontrolle der Krankheit hat sich deutlich gebessert.«

Mit der MS kam bei Patrick auch die Idee zum eigenen Youtube-Channel. Denn was seiner Meinung nach auf Fachseiten oder in Internetforen fehlte, war die Message: »Es ist halt kacke, aber das Leben geht trotzdem weiter.« In einem Interview mit einem Mediziner geht er beispielsweise der Frage nach: »Einen Tauchschein mit MS machen - geht das?« Eine Frau habe sich bei ihm bedankt, weil sie durch das Video wieder Hoffnung schöpfen konnte, erzählt Patrick. »Ich möchte anderen helfen, damit es ihnen besser geht.«

Ihm selbst hilft auch sein Humor: Kurz nach der Diagnose reiste Patrick trotz Doppelsichtigkeit zum Showspringen in die Schweiz. »Ich stand auf 20 Metern: Als ich nach rechts schaute, standen da doppelt so viele Zuschauer - anstatt 40 000 plötzlich 80 000«, erzählt er. »Wer kann schon von sich behaupten, mal vor 80 000 Menschen gestanden zu haben?« dpa/nd

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