• Kultur
  • Blick auf die Ostdeutschen

Hach, was ist das interessant!

Sind Ostdeutsche auch Migranten? Ein Lehrstück über liberale Öffentlichkeit - und doch eine wichtige Debatte

  • Velten Schäfer
  • Lesedauer: 5 Min.

Damit etwas aus der sozialhierarchischen Wirklichkeit ankommt in der Matrix der wirtschafts- wie kulturliberalen Hegemonie, muss es »interessant« sein. Ein sogenannter Missstand allein ist das noch lange nicht. Der betreffende Umstand bedarf eines zweiten Aspektes, eines Bezugs zum Horizont derselben, um einen Posten im herrschenden Gefühlshaushalt zu bilden.

Ein Beispiel aus Frankreich ist jene »Debatte« über den Alltag der Unterschicht, die dort seit ein paar Jahren gelegentlich aufblitzt: Das »harte Leben« dieser Menschenklasse wäre kein Thema, wären nicht diejenigen, die davon zu berichten wissen - der mittlerweile etablierte Soziologe Didier Eribon und der junge Romancier Éduard Louis - zugleich schwul.

Es ist diese Eigenschaft, die ihre Schilderungen des permanenten Krieges gegen die da unten für die dort weiter oben nicht nur anschlussfähig macht, sondern auch erträglich: Mit homosexuellen Perspektiven ist vertraut, wer in den letzten 20 Jahren Hochkultur konsumiert hat. Auch ist der Blick durch die Brille doppelter Randständigkeit tröstlich für das liberale Milieu: Alles wirklich schlimm, kann man sich sagen - aber wenigstens sind wir nicht so homophob wie die Kanaille! Nur von mies bezahlten Jobs und einer Aussicht auf solide Altersarmut zu erzählen, reicht hingegen nicht. Solche Leute werden bestenfalls als gesichtsloses statistisches Aggregat in der Arbeitsmarktdebatte verfrühstückt, als bildungsferne Problemgruppe.

Ähnlich ist es mit jener Ossi-Diskussion, die dieser Tage im deutschen Feuilleton grassiert. Da kann man sich dusslig tippen über Studien, die belegen, dass es nach wie vor Ansehen wie Fortkommen schadet, als »ostdeutsch« identifiziert zu werden - und erntet bloß das große Gähnen: Immer diese Anspruchshaltung, es muss auch mal Schluss sein mit dem Gejammer und übrigens hat der Osten eine obrigkeitsfixierte, unkreative Schlendriankultur produziert, die noch nachwirkt, also zeigt endlich mal Eigeninitiative!

Sagt hingegen die Migrationsforscherin Naika Foroutan der »taz«, Ossis seien seit dem Beitritt ähnlichen Abwertungsrhetoriken und Ausgrenzungspraktiken ausgesetzt wie auch die »Migranten«, ist das plötzlich ganz anders: Hach, so nun der Tenor, was ist das interessant! Analog zur Rezeption von Eribon und Louis fällt der liberalen Mitte der Zugang zum Ossi offenkundig leichter, wenn er über das Migrantenlabel erfolgt: Dann lässt sich die Situation mit gewohntem Vokabular beschreiben - von »Othering« über »Mikroaggression« bis »Empowerment« - und schmerzt das Beschriebene weniger. Gegenüber »Migranten« fällt dem lebensweltlichen Liberalismus Empathie leichter als gegenüber autochthonen »Ossiprolls« (diese Zuschreibungen fallen ja oft in eins): Einmal ist die Sorge um den Fremden stets eine Ausstellung eigener Weltläufigkeit. Und zudem hat dessen Randständigkeit weniger offensichtlich mit der eigenen Besserstellung zu tun als die Abdrängung der »eigenen« Anderen.

Sind die Ossis also »irgendwie auch Migranten«, ähnlich geprägt wie diese, von Empfindungen und Erfahrungen »wie Heimatverlust, vergangene Sehnsuchtsorte, Fremdheitsgefühle und Abwertungserfahrungen?« Dass nicht wenige im Osten genau Personen wie die deutsch-iranische Forscherin, die das sagt, als Ausdruck dieses Heimatverlustes ansprechen und den Vergleich mit »Migranten« als Beleidigung zurückweisen würden, widerlegt Foroutans These nicht. Im Gegenteil ist die Tendenz, negative Zuschreibungen trotzig anzunehmen und mit noch Schwächeren in Konkurrenz zu treten, ein typischer Umgang mit Platzzuweisungen - beim »arabischen Gangster« wie beim xenophoben »Ossi-Schläger«.

Allerdings gilt für letzteren Klischeetypus, dass sich eine zweite, positive Strategie von Ausgegrenzten - besonderer Eifer, dazuzugehören - mit jener ersten, negativen Reaktion übereinbringen lässt: Denn anders als die Hassans aus Berlin-Neukölln können die Kevins aus Anklam auf phänotypische Zugehörigkeitsmerkmale pochen: auf ihren Teint und ihre Familiennamen. Dass aber den Kevins, wie in der »Zeit« Sasan Abdi-Herrle anmerkt, durch ihre Hautfarbe stets das Privileg zukommt, »unsichtbar sein zu können«, stimmt trotzdem nur bedingt. Zutrittsbeschränkte Orte gibt es für beide Sozialfiguren: Zwar müssen Kevins nicht bangen, wen sie im Regionalzug treffen. Doch sind sie aus den Sphären, in denen sich etwa der Politikdoktorand Abdi-Herrle bewegt, aufgrund ihrer Hexis - ihres Auftretens, das ihre Herkunft sichtbar verrät - nicht minder ausgeschlossen. Wenn auch die körperliche Gewalt, die Nicht-Weiße »zwischen Oranienburg und Stralsund« fürchten, unmittelbar bedrohlicher ist als die symbolische Gewalt der liberalen Stigmatisierung des »Ossiprolls«, ist Letztere doch sehr nachhaltig biografiewirksam.

Die Debatte könnte noch einmal aufflammen, wenn die Studie veröffentlicht wird, die den Anlass gab für jenes Interview. Darin legt Foroutan nahe, die strukturell ähnliche Ausschlusserfahrung könne als Brücke zwischen Ossis und Migranten dienen. Versteht man Identität als politischen Prozess, könnte die Debatte lohnen. Sie erinnert an eine Strategie, die nach 1990 in der linken DDR-Opposition - etwa im Umfeld der Zeitschrift »telegraph« - als Reaktion auf die Pogrome von 1991 und 1992 diskutiert wurde: Nachwendeerfahrungen von »Kolonisierung« und Marginalität zum Ausgangspunkt zu machen für eine inklusive, solidarische Politik der »Ostidentität«.

Diese Ansätze wurden in der linken Szene damals fast gewaltsam niederdiskutiert. Was die - meist westdeutsche - Antifa stattdessen durchsetzte, waren »Strafaktionen«, die sich nach rassistischen Vorfällen explizit gegen ganze Dörfer richteten, unter Schlachtrufen wie zum Beispiel »Kühe, Schweine, Ostdeutschland!«

Mit Foroutan ließe sich nun fragen, ob das nicht auch sich selbst erfüllende Prophetie war. Deshalb ist ihr Anstoß wichtig - wie komisch es auch wirken mag, den Ossi über den Migranten finden zu wollen.

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