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  • Kinderläden und antiautoritäre Pädagogik

Kritikbefreit

Die pädagogischen Experimente der 68er gelten heute vielen als suspekt. Ein Teil des Erbes aber wurde integriert

  • Nelli Tügel
  • Lesedauer: 5 Min.

»Was uns heute natürlich erscheint, mussten sich unsere Eltern erarbeiten. Sie waren selbst autoritär erzogen worden, wollten verständlicherweise alles anders machen als ihre Eltern«. So äußerte sich Hosea-Che Dutschke 2013 im Interview mit dem »Tagesspiegel« über seinen Vater Rudi Dutschke. Erziehung der eigenen Kinder zu Selbstbewusstsein und Herrschaftskritik, ohne Konkurrenzkampf und Leistungsprinzip, war ein zentrales Anliegen der westdeutschen 68er-Bewegung - oft firmierend unter dem Begriff des Antiautoritären. Der Heidelberger Erziehungswissenschaftlerin Meike Sophia Baader zufolge eine westdeutsche Besonderheit: Antiautorität sei »in keinem anderen Land ein Schlagwort der 68er-Bewegung« gewesen, so Baader. Für die bundesrepublikanische Nachkriegsgeneration wiederum ergab sich der Stellenwert der Erziehung aus der Geschichte: »Wie kann die nächste Generation dagegen geimpft werden, anfällig für Faschismus zu sein«, war eine der Leitfragen, die die um »68« herum aufbegehrenden jungen Menschen, aber beispielsweise auch die Wissenschaftler der Frankfurter Schule umtrieb. 1966 hatte sich mit Theodor W. Adorno der prominenteste Vertreter der Kritischen Theorie öffentlich Gedanken über eine »Erziehung nach Auschwitz« gemacht.

Das Bedürfnis, die Kinder nicht »zu Kanonenfutter und lebensfeindlicher Politik« auszubilden, war also eine Quelle der ab Ende 1967 ihren Lauf nehmenden westdeutschen Kinderladenbewegung. Für den ersten, 1967 in Frankfurt am Main von Monika Seifert gegründeten antiautoritären Kinderladen, war der pädagogisch-psychoanalytische Aspekt dann auch der ausschlaggebende.

In Berlin, wo unabhängig davon zur gleichen Zeit die Gründung von Kinderläden ausgebrütet wurde, waren die Erwägungen zunächst eher praktische. Frauen, die in der außerparlamentarischen Opposition und dem SDS aktiv geworden waren, suchten nach Wegen, die Betreuung ihrer Kinder kollektiv zu organisieren. Dass Kindererziehung Frauensache sei, war eine auch in linken Kreisen weit verbreitete Einstellung. »Kein Mann wäre auf den Gedanken gekommen, abends auf das Kind aufzupassen und stattdessen seine Frau zu einer Veranstaltung gehen zu lassen«, schrieb Helke Sander - eine der Initiatorinnen der Berliner Kinderladenbewegung und Mitbegründerin des Aktionsrates zur Befreiung der Frau - 2008 zum 40. Jahrestag von »68«. Neben der ungleichen Verteilung innerhalb der Partnerschaften, war die Betreuungssituation in der Stadt miserabel: Kindergartenplätze gab es kaum, zu wenige Erzieherinnen mussten zu viele Kinder versorgen - und die Betreuung in den existierenden Verwahreinrichtungen war dementsprechend von Drill und Lieblosigkeit geprägt.

Zunächst waren vor diesem Hintergrund die im Januar 1968 gegründeten ersten fünf Kinderläden - die in früheren Tante-Emma-Laden eingerichtet wurden, daher der Name - als vorübergehende Lösung gedacht. Doch innerhalb kurzer Zeit folgten den ersten Initiativen viele weitere - und der »Aktionsrat zur Befreiung der Frau« begann, sein Anliegen zu verbreitern, indem er sich an Kindergärtnerinnen richtete, mit großer Resonanz, und mit diesen einen Streik vorbereitete. Mit dem Zerfall des SDS kam es auch in der Kinderladenbewegung zu Verwerfungen. Die Hauptlinien verliefen dabei - analog zur Spaltung in K-Gruppen und Spontis - zwischen denen, die weiter eine »antiautoritäre Pädagogik« erproben wollten und jenen, die sich einer »proletarischen Erziehung« (oder dem, was sie dafür hielten) zuwandten.

Knapp fünfzig Jahre später ist das öffentliche Sprechen über »antiautoritäre Pädagogik« oder Erziehung nach »68« von allerlei Mythen und schaurigen Anekdoten geprägt. »Müssen wir schon wieder spielen, was wir wollen«, hätten Kinderladenkinder die Betreuer gefragt. Ihre Eltern hätten sie beim Vornamen nennen, die Wände bemalen und immerzu nackt und mit ungekämmten Haaren herumlaufen müssen. Gut verkaufen lassen sich auch Geschichten von in libanesischen Terrorcamps verschwundenen RAF-Müttern und Vätern. In der Regel wird das Antiautoritäre in diesen Erzählungen mit »Laissez-faire« gleichgesetzt - oder direkt mit Vernachlässigung und Kindesmissbrauch.

Letzteres ist ganz und gar nicht abwegig angesichts bizarrer Anleitungen zum Missbrauch, die beispielsweise durch die Kommune 2 aufgeschrieben, 1969 im Kursbuch (Suhrkamp-Verlag, herausgegeben von Hans Magnus Enzensberger) publiziert wurden. Solche Schriften haben einen nachdrücklichen Eindruck hinterlassen und prägen heute das Bild der 68er-Erziehung, allerdings waren sie nur für einen Teil der Bewegung exemplarisch.

Sehr viel weniger Beachtung - wohl auch, weil weniger skandalisierbar - erhalten im öffentlichen Diskurs hingegen damals viel diskutierte pädagogische Konzepte, die in die 1920er Jahre zurückgingen. Man war interessiert an früh-sowjetischen Konzepten, an der 1921 in England gegründeten Summerhill-Schule, ebenso wie an den Texten des Reformpädagogen und Psychoanalytikers Siegfried Bernfeld. Seine Schrift »Sisyphos oder Die Grenzen der Erziehung« aus dem Jahr 1925, in der Bernfeld Erziehung als Mittel des Machterhalts kapitalistischer Klassenherrschaft beschreibt, wurde 1967 bei Suhrkamp neu verlegt. Der Sammelband »Antiautoritäre Erziehung und Psychoanalyse« erschien 1969 und wurde wie auch der »Sisyphos« intensiv rezipiert.

Heute lässt sich neben der verbreiteten Geringschätzung für »antiautoritäre Erziehung« aber eine bemerkenswerte Differenz ausmachen. Ein Teil dessen, wofür »68« stand, wurde in die Mainstream-Pädagogik der Gegenwart integriert, man könnte auch sagen: es wurde entschärft, eingehegt und verwertbar gemacht. Erziehung »auf Augenhöhe« gehören wie die Befähigung zum Selbstbewusstsein zu den Zielen heute verbreiteter Erziehungsmodelle. Und auch die Kinderläden - allein in Berlin gibt es mehrere hundert öffentlich geförderte Eltern-Initiativ-Kindertagesstätten - existieren bis heute.

Wie aber vieles, das zum Erbe von »68« gehört, ist der radikale Kern der Ursprungsidee dabei fast verschwunden. Erziehung als Teil politischer Bewegung und fundamentaler Herrschaftskritik zu verstehen - dieser Anspruch wurde in die Geschichtsbücher verbannt.

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