»Elterntaxis« schaffen Chaos vor Schulen

Schon vor der ersten Unterrichtsstunde erleben Kinder oft aufregende Minuten - ein Bericht aus Thüringen

  • Claudia Götze, Erfurt
  • Lesedauer: 4 Min.

Autoschlangen vor der Schule, Stress beim Aussteigen und Verabschieden der Kinder. An vielen Schulen in Thüringen erleben Kinder schon vor der ersten Stunde aufregende Minuten - noch vor dem Gebäude. Zahlreiche Eltern trauen ihren Sprösslingen offenbar den Schulweg nicht zu und bringen sie mit dem Auto bis vor die Tür, wie eine dpa-Umfrage unter Verbänden und Schulen ergab.

In der morgendlichen Hetzerei werde oft die Sicherheit vernachlässigt und unnötig Hektik verbreitet, sagt Dagmar Lemke, Geschäftsführerin der Landesverkehrswacht Thüringen. Autos stünden im absoluten Halteverbot, Kinder stiegen auf der Fahrbahnseite aus dem Auto. Die Ranzen hätten sie während der Fahrt häufig auf dem Rücken. In Erfurt sei dies regelmäßig etwa vor der Europa-Schule in der Blumenstraße und an der Riethschule zu beobachten. Das »Elterntaxi«-Phänomen existiere deutschlandweit, betont Hans-Günter Weisheit von der Verkehrswacht Schmalkalden-Meiningen. Eine der Ausnahmen sei die Ludwig-Chronegk-Grundschule in Meiningen, da funktioniere es. Aber in Breitungen, Fambach und Schmalkalden spiele sich jeden Morgen das gleiche Ritual ab. Das Problem liege im Elternhaus. Trotz Schulbussen oder kurzer Wege stiegen die Menschen ins Auto.

Die Thüringer Verkehrswachten kennen das Problem seit Langem. Bei Kontrollen gemeinsam mit der Polizei sagten Eltern regelmäßig, dass »das Auto nur heute mal dabei« sei. Doch selbst Schilder an Schulzäunen und Treppenhäusern mit Aufschriften wie »Von hier kann ich es allein« würden ignoriert. Eltern brächten die Kinder oft bis ins Klassenzimmer. Kontrollen verlören ihre Wirkung, weil die Eltern untereinander gut vernetzt seien und sich gegenseitig warnten.

Das Thema gehört zum Schuljahresanfang mittlerweile zu wohl jeder Elternversammlung. Im Gespräch mit den Eltern seien diese auch einsichtig, meint Hans-Günter Weisheit von der Verkehrswacht. Das halte nur nicht lange an.

Die Schulleiterin Monika Kleinschmidt von der Nikolaischule in Mühlhausen kann ein Lied davon singen. Von mehr als 300 Kindern würden 250 mit dem Auto zur Schule gebracht. Jeden Schulmorgen gebe es einen Stau in der Altenburgstraße. Seit Jahren versucht die Schule, das Problem in den Griff zu bekommen. »Wir haben alle im Boot gehabt und sogar einen Elternbrief ausschließlich diesem Thema gewidmet«, berichtet Kleinschmidt. Ein Hintereingang der Schule sei zusätzlich geöffnet worden, um eine weitere Zufahrt anzubieten. Dass mittlerweile kaum ein Kind zu Fuß die Schule erreicht, hänge auch mit der Aufhebung der Einzugsbereiche zusammen. »Inzwischen kommen Kinder aus dem gesamten Stadtgebiet, die natürlich aufs ›Elterntaxi‹ angewiesen sind«, erklärt Kleinschmidt. Es habe schon Pläne für eine Wendeschleife auf dem Schulgelände gegeben, die aber das Grundproblem des Staus nicht gelöst hätten. Auch der Vorschlag, die Zufahrtsstraße als durchgängige Einbahnstraße zu gestalten, fand im Mühlhäuser Rathaus keine Zustimmung.

Trotz teils chaotischer Minuten vor den Schuleingängen sei glücklicherweise bisher kaum etwas passiert, sagt Lemke von der Landesverkehrwacht. Die Zahl der Unfälle auf Schulwegen sei thüringenweit rückläufig. 2017 waren es 53, ein Jahr zuvor 69.

Im Norden des Kyffhäuserkreises kommt ein Großteil der Kinder mit dem Schulbus. »Die Einzugsbereiche sind so gestaltet, dass es zu Fuß oder mit dem öffentlichen Nahverkehr klappt«, sagt Horst Franke von der Verkehrswacht Sondershausen. Probleme habe es an der Sondershäuser Regelschule am Franzberg gegeben. Nach deren Umzug sei es aber nicht mehr möglich gewesen, dicht ans Schulgebäude zu fahren.

»Wir haben zum Glück kurze Schulwege«, betont Schulleiterin Cornelia Müller von der Christian-Andersen-Grundschule in Gera-Liebschwitz. Nur jedes dritte Kind werde mit dem Auto gebracht. Schülerlotsen aus der benachbarten Regelschule sichern den Fußgängerüberweg am Schuleingang ab.

Die Verkehrswacht will mit Transparenten und Messgeräten weiter für einen sicheren Schulweg kämpfen, sagt Dagmar Lemke. Mit Kindern, die Smileys und »Saures« verteilen, sollen auch hartnäckige Eltern sensibilisiert werden. Dafür sei auch die Verkehrserziehung mit Radfahrschule wichtig. »Mit Fahrradpass wechseln viele Viertklässler vom ›Elterntaxi‹ aufs Fahrrad«, hofft sie. dpa/nd

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